Materialismus heute und ein Bewußtseinssprung
im dritten Jahrtausend

Der Untergang der zivilisatorischen Leistungen des Abendlandes in einer verrohten, von Konsumwahn gesteuerten, wertefreien Massengesellschaft der Zukunft scheint zumindest möglich. Werden dann geklonte Massenmenschen die Basis der weiteren Entwicklung ?
Oder wird die arbeitsfreie Automatengesellschaft  der nächste Schritt sein ?
Und doch scheint das beginnende sogenannte Wassermannzeitalter   einen Bewußtseinssprung zu versprechen. Allerdings müßte er durch eine Anzahl zu ihrer Berufung, zum Lebenssinn, erwachte Individuen erreicht werden, um gesellschaftlich heilsam zu wirken. Wohin könnte uns das führen ?
Solch ein „erwachtes Individuum“ schließt sich an unsere geistig- seelischen Wurzeln an, lebt die Verbindung zum Kosmos und ist damit nicht zu verwechseln mit dem von Konsumwahn und Eigeninteresse gesteuerten und als „individueller Kunde“ umworbenen Massenmenschen.  Die Vision des „erwachten Individuums“ erscheint heute allerdings schwach gegenüber den Kollektivvisionen der Technokraten und Globalisten.
Sind wir uns der schöpferischen Möglichkeiten und der „ordnenden Kräfte“ bewußt, die von einem tiefen individuellen  Bewußtseinswandel  ausgelöst werden können, an dessen Schwelle das Abendland nach 2000 Jahren Entwicklung heute steht ?
Um dieser Frage nachzugehen, sollten wir zunächst zurückblicken. Das  zwanzigste Jahrhundert war ein Zeitalter der Erfolge des „mental-rationalen“ Denkens (Jean Gebser). In seiner gründlichen kulturphilosophischen Analyse zeigte Jean Gebser schon in den fünfziger Jahren kulturgeschicht- liche Bewußtseinsstufen auf, die im Wassermannzeitalter zu einem neuen, „integralen Bewußtsein“ (Gebser) im Individuum führen können. Es gibt bei diesem Bewußtseinssprung für uns keine Heilsversprechen, sondern Wachstums- und Erkenntnisaufgaben sind zu lösen.
Betrachten wir unsere heute gesellschaftlich prägendedefizient mentale (Gebser) Bewußtseins- haltung, so erkennen wir den Materialismus als Glaubensform. Dieser intellektuelle Materialismus meint, daß Intellekt der Geist selber sei. Nach den Weisheitstraditionen ist Geist reine Bewußtheit, eine göttliche Manifestation, unbedingte „Freiheit“ (Goethe) oder im Zen „die Leere, das reine Bewußtsein, der klare Spiegel des Sees“. Intellekt ist lediglich eine Fähigkeit des logischen Denkens, des Verarbeitens komplexer Zusammenhänge, des Schlußfolgerns.
Weiterhin wird materialistisch Emotion oder Instinkt mit Seele verwechselt oder die Seele wird völlig vergessen. Die materiell gelebte Form der  Liebe als Sexualität ersetzt dann die seelische Einheit mit dem Leben. Nach unseren Traditionen ist die individuelle Seele, die ins Unsterbliche ragt, ins „Ungeborene“, von Gott geschöpft. Sie ist die mit der göttlichen Welt-Seele verbundene Ur-Form der am materiellen Außen orientierten Person (personare - duchtönen).

Materialistisch-intellektuell werden also Geist und Seele als Folgeerscheinungen der Gehirntätigkeit oder einer Körperfunktion abgewertet und damit eigentlich abgeschafft.

Diese Haltung dominiert immer noch die neurologisch- psychologischen Vorstellungen der Hirnforscher von dem, was unser Bewußtsein ist.
Genauso ist die wirtschaftlich motivierte Globalisierung als heute dominierende Wandlungskraft nicht am Gesamtwohl des Ökosystems, sondern an Konzerninteressen orientiert.
Sinn und Wert wird nicht mehr für die globalen Entwicklungen und für das eigene, praktisches Leben als Maßstab erprobt, entwickelt oder eingefordert. All das deutet auf einen tiefgehenden Orientierungsverlust unserer Gesellschaft hin. Jeder einzelne, der um Orientierung und Sinn ringt, muß sich durch einen Dschungel der Beliebigkeiten hindurchkämpfen, ehe er eine für sich lebbare und an den geistigen und seelischen  Wurzeln der abendländischen Entwicklung angelehnte Lebensform ent-wickeln kann. Dieser Bewußtseinswandel zum „integralen“ ist keine intellektuelle Aufgabe, es ist eine Aufgabe der Selbsterkenntnis und Selbstfindung: „Erkenne Dich selbst und Du wirst das Universum und die Götter kennen“ (Apollo Tempel in Delphi). Wir stehen dabei heute vor einem unüberschaubaren Angebot esoterischer Heilversprechen aus aller Welt, die allerdings auch oft aus dem jeweiligen kultur- und bewußtseinsspezifischen Zusammenhang herausgerissen wurden. Sich einen fremden magischen Ritus, eine mythische Vorstellungswelt oder ein intellektuelles System einfach überzustülpen führt manchmal zu einer kurzfristigen Begeisterung, selten jedoch zur Zusammenführung mit den eigenen Wurzeln und Aufgaben im Leben.
Es geht aber gerade darum, die Integrationsarbeit zum neuen „integralen Bewußtsein“ auf dem Hintergrund unserer abendländischen Bewußtseinsentwicklung zu leisten.
Der „Zufall“ als wirkendes Gesetz hat zum Glück im zwanzigsten Jahrhundert einige der Wurzeln unserer mehrere tausend Jahre alten Bewußtseinsgeschichte freigelegt und für unsere heutige Zeit wiederbelebt.
Das Christentum ist die zentrale lebendige religiöse Wurzel des Abendlandes, die wie unser Gesamtbewußtsein vertrocknet und intellektualisiert wurde. Die in Selbsterkenntnis und Christuserkenntnis gegründeten mystischen Wurzeln des Christentums werden uns u.a. wieder sehr deutlich durch das Wiederauffinden der Schriften vom Toten Meer (Thomas Evangelium, Schriften der Essener). Christus, der darin eine seelisch-gleichnishafte und geistig-klare Meisterrolle lebt, argumentiert sehr drastisch und deutlich gegen die Erstarrung der Priesterkaste und ihre intellektuellen Ideen und Gesetze. Vielleicht ist das Christentum erst jetzt (am Ende der 2000 Jahre Entwicklung des vorigen Zeitalters) erkennbar und realisierbar geworden, nachdem die verschiedenen Blüten christlicher Welterkenntnis heute zu einem Strauß gefasst und integriert werden können. Das ist das Kommen des Christus in jedem, das „Christusbewußtsein“.
Es wird auch im 20. Jahrhundert wieder mystisch gesucht (u.a. von Pater Kopp, Pater Lasalle, Albert Schweitzer, Rudolf Steiner, Karl-Fried Graf Dürckheim, Frédéric Lionel). Auf Basis der Erfahrungen von 2000 Jahren Bewußtseinsentwicklung des christlichen Abendlandes ist der seelische Kelch der Wandlung, sozusagen der Gral der Neuzeit, in uns vorhanden, wenn wir ihn bloß suchen.
Wie Ornamente an diesem Kelch der Wandlung sind auch andere erprobte seelische Selbsterkenntnis- und Wandlungsverfahren, z.B. in der Alchemie, und die geistigen Fundamente unserer abendländischen naturwissenschaftlich-technischen Zivilisation, z.B.  von Pythagoras, im 20. Jahrhundert „zufällig“ wieder aus einem Halbdämmer aufgetaucht und sichtbar geworden.
Dazu gehört maßgeblich die Wiederentdeckung der Alchemie durch Carl Gustav Jung. Jung stieg hinab in die Tiefe seiner Seele und fand, daß auch gesunde Menschen erstaunliche, vom seelischen Unbewußten ausgelöste Wandlungsprozesse hin zum „Selbst“, zu einer höheren inneren Einheit, durchmachen. Er nannte das Individuation, den Weg der Selbstfindung. Die Sprache der Seele, ihre Symbole, erkannte er in den verschlungenen Traktaten der Alchemisten, die auch auf diesem Weg der Wandlung gewesen waren. Erkenntnis setzt Verwandlung voraus.
C.G. Jung fand auf dem Weg über seine Träume zur Alchemie. Die Alchemie hat als zentrale Symbole Christus wie auch Hermes sowie Anima bzw. Animus, also die unbewußten, verborgenen Seelenanteile im Menschen, die bis ins Göttliche hineinragen. Alchemie basiert sowohl auf hermetisch-gnostischem wie auf christlichem Gedankengut und geht als Methode weit zurück, sogar vor das Christentum.
C.G. Jung schreibt: „Erst als ich anfing, die Alchemie zu verstehen, erkannte ich, daß sich durch sie die historische Verbindung zum Gnostizismus ergibt“..„daß durch die Alchemie die Kontinuität von der Vergangenheit zur Gegenwart hergestellt ist.. zur Psychologie des Unbewußten“. „Die Erfahrungen der Alchemisten waren meine Erfahrungen und ihre Welt war in gewissem Sinn meine Welt“. „Durch das Studium der individuellen und kollektiven Wandlungsvorgänge und durch das Verständnis der alchemistischen Symbolik kam ich zum zentralen Begriff meiner Psychologie, dem Individuationsprozeß“ .(C.G. Jung).
Der „große Mensch“, der Christus oder Lapis (Stein), entsteht als Ergebnis des Individuationsprozesses.
Was der Individuationsprozess für den einzelnen, ist die Erkenntnis der kosmischen Gesetze und deren mystische Erfahrbarkeit in Naturwissenschaft und Technik für unsere westliche Gesellschaft, nämlich die Wurzel und Verbindung zum Kosmos, zu Gott, zum Sinn. Die Wiederentdeckung des Pythagoras in der Naturwissenschaft und Technik ist der „zufällig“ wiedergefundene Schlüssel dazu. Geistige Strukturen bestimmen nach Pythagoras die richtigen, harmonischen Beziehungen, deren Ausdruck die natürlichen materiellen Gebilde (Galaxien, aber auch unsere Körper) sind. Wobei wir heute wissen, daß es Materie als solches nicht gibt, daß das Universum „eher einem Gedanken als einer Maschine“ gleicht. Die Wahrnehmung dieser Strukturen, die den Kosmos, die große Ordnung, ausmachen war für Pythagoras die Sphärenmusik, die er auch über musikalische Experimente untersuchte. Zahlenphilosophie, Geometrie, Musik und Astronomie(-logie) waren die Fundamente seiner auf Experiment und Meditation gleichermaßen aufgebauten Welt- und Selbst-Erkenntnis.
Werner Heisenberg, einer der größten Physiker des zwanzigsten Jahrhunderts, schreibt über die moderne Physik : „Da erscheint auf einmal vor unserem geistigen  Auge  ein Zusammenhang, der auch ohne uns  und  schon  immer dagewesen ist und ganz offensichtlich nicht von Menschen gemacht ist. Solche Zusammenhänge sind doch wohl der eigentliche Inhalt unserer Wissenschaft". „Es sind die gleichen ordnenden Kräfte , die die Natur in all ihren Formen gebildet haben und die für die  Struktur  unserer  Seele, also auch unseres Denkvermögens,  verantwortlich sind." „Nichts ist erstaunlicher als die Wiederentdeckung von Pythagoras durch die moderne Naturwissenschaft“, schreibt Frédéric Lionel dazu. Aber „der durch die wissenschaftliche Forschung geweckte Fortschrittsgeist kann nur auf dem Boden der ewigen Weisheit wahrhaftig erblühen.“ „Wenn alles mit allem verbunden ist, wie die moderne Wissenschaft es beweist, sind wir Menschen nicht nur untereinander, sondern auch mit unserer gesamten Um-Welt verbunden. Wir bilden einen lebenden Organismus, ein lebendes Ganzes. In einem lebenden Organismus hat jede Zelle eine Funktion, die sie erfüllen muß, um dem Gesamt-Organismus Harmonie, also Gesundheit, zu verleihen. Welche Aufgabe das (für den einzelnen) ist, wie sie zu erkennen, wie sie anzunehmen und zu erfüllen ist, bleibt, denke ich, die (zu lösende) Aufgabe “(F. Lionel).
Vielleicht lohnt es sich also doch, gerade heute den Weg der Selbsterkenntnis und der Wandlung für uns und für die Zukunft unserer Kinder zu gehen. Dieser „zielfreie Weg“ führt zum inneren Meister, zum Leben, zur Weltseele – zum lebendigen Christus in uns.  „Der einzige innere Meister, wir könnten ihn Christus in jedem nennen, wohnt uns inne“(Lionel).
Wenn wir nicht Automaten oder Retortenmenschen als Zerrspiegel unseres materialistischen Denkens zu Erben des Abendlandes machen wollen, ist die Wandlung zum integralen Bewußtsein, die „Individuation“, vielleicht doch die bessere gesellschaftliche Vision. Zumindest entspricht sie wohl eher dem Gesetz des Kosmos (Pythagoras) und dem Gesetz der Seele (C.G. Jung) als technokratische Globalisierungsgebete.