Der Alte
Der Alte dreht langsam sein verwittertes Gesicht in Richtung des jungen Besuchers und mustert ihn aus ruhigen, tiefblauen Augen.

"Sie glauben also, daß es heute keine Magie mehr gibt, alles Aberglaube, vorbei und vergessen ? Sie meinen, ich hätte diese Geschichte nur geschrieben, um literarisch "einen Topos" zu bedienen ? Wenn Ihr Seminarleiter das meint – aber ich möchte das nicht so einfach stehen lassen, wo Sie doch den Weg heraus zu mir auf sich genommen haben. Mein lieber junger Freund, wenn ich Ihnen dazu also etwas aus meinem Leben erzählen darf - Sie sollen sich selber ein Urteil darüber bilden können.

Ich war viele Jahre als Ingenieur und Berater tätig. Wir entwickelten komplexe technische Systeme. Vielleicht wissen Sie, daß solche Systeme ab einer gewissen Vielschichtigkeit scheinbar ein Eigenleben haben - nun ja, zumindest kam es mir und meinen Kollegen oft so vor. Wenn also Fehler auftraten, oder einfach nur das unerwartete Systemverhalten uns in Erklärungsnotstände brachte - Zufall oder nicht – ich konnte solche Systeme heilen ! Sie lächeln ungläubig, ja, ja , ich verstehe. Aber wie kann es sein, daß ich in einer guten Tagesform Parameter fand, die es heilten, Kollegen und Kunden zusammenbringen konnte, die gestörte Ordnung innerhalb der Technik und zwischen den Menschen wiederherstellen konnte ? Ich habe oft darüber nachgedacht, hinterher. Wie konnte etwas Geheimnisvolles in mir als Katalysator durch mich wirken ? Oft war ich unwissend – aber ich fand zufällig den Schlüssel, der ins Schloß passte. Und ich fand das richtige Schloß. Da war entspanntes Zuhören in mir bei harrscher Kundendrohung, da enstand vor meinem inneren Auge scheinbar zufällig eine Vorstellung, ein Bild mit einer bisher unbekannten Erklärung – und ich konnte den Kollegen finden, der daraus den richtigen Parameter ableitete, die Umgebungsvariable in homöopathischer Dosis in das System einführte".

Der Alte spricht jetzt zu sich selber, der Glanz seiner Augen hat sich nach innen gewendet. Der junge Besucher rutscht nervös auf seinem Stuhl herum und mustert die verstaubten Buchrücken und den Stapel alter Magazine. "Wochenlang war das System gestört- plötzlich war es geheilt ! Vorwürfe und Drohungen eines Kunden verwandelten sich in Freundlichkeit. Gemeinsame Lösungen entstanden aus der Luft, eine neue, entspannte Gemeinsamkeit folgte auf eine heftig vorgetragene Konfrontation ! Ich habe oft darüber nachgegrübelt, wissen Sie, aber immer später, nie während dieser Heilungen."

Einen Augenblick ist Stille. Die Stille weitet sich, erfüllt das schmudelige Wohnzimmer, in dem der Alte seine Benutzungsspuren in den Staub schreibt. Der geduckte Raum im abgelegenen Bauernhaus aus dem 17. Jahrhundert enthält etwas Undefinierbares, verströmt trotz Staub eine feine Atmosphäre. Der Besucher überlegt, was es sein könnte, was das sein könnte, und seine Stirn kräuselt sich.

"Könnte das nicht einfach Zufall gewesen sein ? Oder - Sie wußten einfach etwas mehr
als andere !"

"Nein, nein, nein, ich wußte oftmals weniger als andere ! Ich habe mir eine andere Erklärung zurecht gelegt. Sehen Sie, bei Hugo Kükelhaus las ich einmal "Wenn sich die Dinge in dir ordnen, ordnen sie sich vor Dir" – das hat mich damals elektrisiert ! Wie konnte es eine direkte Verbindung von innen und außen geben, also an meinem Wissen vorbei, an mir vorbei – sozusagen eine Einheit hinter der scheinbaren Verschiedenheit zwischen innen und außen ? Oder zwischen unten und oben ? Zwischen Psyche und Materie ? Zwischen dem Kosmos und mir ? Ich kann das gar nicht richtig ausdrücken, was sich mir da aufdrängte – ich war fasziniert und verwirrt zugleich." Es entsteht eine Stille. Der Besucher rutscht unbehaglich auf dem Stuhl herum, sucht vielleicht nach einer netten Verabschiedungsfloskel, druckst herum - und wartet. Der Alte mumelt etwas, bei der zweiten Wiederholung klingt es deutlicher. ".. Magie – die Welt ist Eine, die Dinge in Dir sind auch die Dinge über Dir, die Dinge hinter mir sind auch die Dinge vor mir, die Dinge unten sind auch die Dinge oben, die…" Sein Murmeln wird wieder undeutlicher. Er räuspert sich. "Entschuldigen Sie, ich war etwas abgeschweift... was wollte ich sagen ? Ach ja…, also, ich fand eines Tages ein Buch über Alchemie, irgendwie merkwürdig. Ich las es an einem Stück durch und verstand kein Wort. Was sollte das ? Um was ging es da ? Aber - jedenfalls waren diese Leute über die Jahrhunderte überzeugt, daß es eine Einheit gibt zwischen innen und außen! Sie dachten, daß der, der in sich durch göttliche Gnade Gold gefunden hat - auch außen Gold in der Retorte machen kann. Und daß ihr Weg der Wandlung innen und außen zu den gleichen Veränderungen führt." Er lächelt glücklich ins halbblinde Fenster, das den Blick auf den verwilderten Garten mit einer Hecke und einer dahinterliegenden Wiese nur widerwillig freigibt. "Ich hatte jemanden gefunden, der mich verstand – auch wenn es nur ein Arzt und Alchemist aus dem 16. Jahrhundert war. Ich verstand dann nach und nach, daß jedes Feld in mir, das sich innerlich verwandelt, auch äusserlich wandelt – in gleicher Weise ! Seltsam, nicht ?" Triumphierend trifft sein Blick den Besucher, der unbehaglich dasitzt und in seinen Gedanken eine völlig andere Richtung zu verfolgen scheint. Der Blick des Alten verschleiert sich wieder, er räuspert sich. "Nun ja, ich habe dann so einige Jahre selber experimentiert damit – aber nicht mit der Retorte sondern mit dem praktischen Leben. Das Alltagsleben ist die Retorte von heute, verstehen Sie ?" Der Besucher erhebt sich hastig. "Ich hatte vergessen, daß ich schon vor einer halben Stunde einen Termin hatte - entschuldigen Sie bitte, ich muß jetzt gehen. Es war nett, mit Ihnen zu plaudern. Auf Wiedersehen !". Ohne eine Antwort abzuwarten geht er hastig zur Tür des alten Bauernhauses. Der Alte hört noch die Aussentür zuschlagen und Schritte auf dem Kies, die sich rasch entfernen.
 
 
 
 

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