DAS GANZE LEBEN
 
Gerd sieht überrascht auf die Uhr - fast schon Feierabend. Wenn er bloß noch diesen bug aus der Software herausbekäme. Warum dieser kryptische Systemabsturz ? Er kaut an den Fingernägeln, hackt rasch Befehlsfolgen in die Tastatur, startet neue Programme auf dem Bildschirm, schaut grübelnd aus dem Fenster. Hektik, Unruhe und Schnelligkeit bestimmen seinen Arbeitsrhythmus an der Maschine. Der Unterschied zwischen falsch oder richtig, zwischen Projekterfolg oder Mißerfolg ist ein Promillefehler in den zweihunderttausend Programmzeilen des Systems.
Das von seinem Team entwickelte Softewaresystem kommt langsam ans Laufen. Dicke Entwurfsdokumente, zähe Kundengespräche, viele kaffeesüchtige Lösungsdiskussionen und unendlich viele Zeilen Programmcode liegen als Zwischenetappen in den langen Monaten hinter ihnen . Modul auf Modul hat das System bis zu den Integrationstests seine geplante Struktur angenommen, deren Stimmigkeit eigentlich nur noch er als Architekt und Projektleiter übersehen kann.
"Wahrscheinlich wieder Fehler in den Kommunikationsprozessen von Rolf - es wäre nicht das erste Mal." Morgen früh in der Teambesprechnung wird er eine lange Liste offener Punkte präsentieren, die seine heutigen Tests ans Tageslicht gebracht haben.
Er schreibt seine Kommentare und beendet die Arbeitssitzung an der Maschine.

Katharina wird heute abend nicht da sein - sie ist in Stuttgart auf einem Symposium. Sein Blick streift erschlaffend durch sein helles, freundliches Büro. Der funktionale Schreibtisch quillt über von Ordnern und Briefen. Ein Aufriß einer mittelalterlichen Kathedrale an der gegenüberliegenden Wand fesselt ihn kurz durch seine Proportionen und Symmetrien. An den anderen Wänden geben seine eigenen Aufnahmen von kanadischen Wäldern im Herbst und von einer Skyline mit Wolkenkratzern dem Raum einen Anflug von persönlicher Note und Weite.

"Ich werde wohl früh schlafen gehen heute", murmelt er. Gerd fühlt sich ausgelaugt, abgespannt und geistig eingeengt nach diesem Arbeitstag am Computer. "Vielleicht wäre Kino oder Meditation auch nicht schlecht". Seine Gewohnheit, Selbstgespräche zu führen, hilft ihm bei der Konzentration auf wenige der jetzt flatternden Gedankengebilde in seinem Kopf. Er fordert von sich und seinen MitarbeiterInnen einen hohen Arbeitseinsatz und ist trotzdem beliebt wegen seiner Willensstärke gepaart mit Intelligenz und seiner Kreativität gepaart mit Hilfsbereitschaft.
Auf dem Weg zum Ausgang geht er durch einen sterilen Kunstlichtkorridor, der den Bürotrakt durchzieht. Er biegt ab in die Toilette und sieht in der großen Spiegelfläche einen etwa vierzigjährigen Mann mit schütterem Haar und Jeans - Outfit. Aus dem gebräunten, markanten Gesicht sehen ihn unter buschigen Brauen prüfende, graublaue Augen an. Der hochgewachsene, muskulöse Körper mit Bauchansatz hat auch schon bessere Tage mit mehr Aufmerksamkeit hinter sich. Beim Waschen bemerkt Gerd erstaunt die sehnige, zupackende Form seiner Hände. Als er sich schon zum Ausgang wenden will, empfängt er plötzlich einen gehetzten, fast verzweifelten Blick aus dem Spiegel. Ist da nicht vernichtende Bedeutungslosigkeit, hemmungslose Mittelmäßigkeit und gähnende Langeweile in seinem Spiegelbild wahrnehmbar ?
Gerd schüttelt irritiert den Kopf und verläßt die Toilette. Seit sechs Jahren ist er als Projektleiter bei EUSOFT. "Die Arbeit ist innovativ, die Büros sind modern, die Leute sind nett - das Informationszeitalter geht mit uns seinen Weg." Gerd grinst, als er die Floskelhaftigkeit seiner Arbeitsbeschreibung bemerkt. Er kommt sich vor wie ein verzweifelter Politiker, der sich über seinen Mangel an eigenen Visionen mit amtlichen Glaubensbekenntnissen hinweg retten will.
Plötzlich hellt sich seine düstere Miene auf. Corinna, seine hübscheste Mitarbeiterin, kommt leichten federnden Schrittes den Gang hinunter. Er genießt den Anblick ihrer geschmeidigen Bewegungen, das verlockende Lächeln, das Schwingen ihres schönen Körpers beim Gehen. Sie lächeln sich an, erzählen sich noch schnell ein paar Ergebnisse ihrer Tagesarbeit. Ein warmes wohliges Gefühl breitet sich in Gerds Bauch aus, um von da aus in den Brustbereich zu wandern. Nach zehn Minuten scheint der bohrende Zweifel von vorhin verschwunden zu sein. Gerd verabschiedet sich herzlich von Corinna und geht durch die Eingangsschranke, in der automatisch sein Gehen und seine Arbeitszeit vom Zeiterfassungssystem der EUSOFT festgestellt werden.
 

Auf der abendlichen Großstadtstraße empfängt ihn ein Schwall heißer Luft - plötzlich und unerwartet nach einem klimatisierten Tag. Die Fahrbahn vor ihm wird von vierstöckigen Gebäuden eingefaßt. Autos drängeln vorbei, Menschen streben unsichtbaren Zielen entgegen. Er geht zu dem Fahrradständer der EUSOFT und kettet seinen Drahtesel los. "Ökotiger kommt !". Gerd fühlt sich angeregt, aufnahmefähig für die Reize und Gefühle dieser Welt. Er schwingt sich in den Sattel und lenkt sein Fahrrad auf den Fußweg, dann auf den Fahrradweg. Der Abendhimmel deckelt die Straßen, ist blaugrau und bedeckt. Warmer Fahrtwind umschmeichelt ihn, geruchsschwanger, beladen mit den Versprechungen des Sommers, durchzogen von Abgasschwaden und Parfümspuren. Vorbei an parodistisch anmutenden Pflanzungen junger Straßenbäume - vier riesige, frisch abgeholzte Baumstangen halten ein dünnes Bäumchen. Vorbei an Ampelstaus - katalysatorgereinigte Abgase drücken sich in seine Lungenflügel. Vorbei an Caféterassen - statt bunter Sommerblumen grüne, blaue und braune Sommeraugenblicke, Frauenlächeln in Gesprächen, halbinteressierte Seitenblicke auf den Radfahrer, vibrierende und uneinlösbare Versprechungen gebräunter Haut als besonderes Fluidum dieses Sommerabends.

Die Straßen werden leerer, die Häuser weichen zurück und machen einer Baumreihe alter hoher, schattiger Linden Platz. Gerd biegt in die Lindenstraße ein, in der er mit Katharina eine Dreizimmerwohnung im dritten Stock eines ruhigen Altbaus bewohnt. Er stellt sein Fahrrad in den Innenhof und betritt den kühlen Flur. Die überquellende Briefkastenreihe wartet mit Werbesendungen und einer Rechnung auf ihn. Beim Steigen im schwülen, knarrenden Treppenhaus weht ihm durch die geöffneten Fenster Kinderlachen aus dem Innenhof zu. Er trifft die hochbetagte Frau Krichels und bespricht mit ihr in zehn Minuten, daß es gut geht heute. Gerd öffnet die hohe, knarrende Eingangstür zu seiner Wohnung und ist endlich alleine.
Die Ikea - Garderobe läßt ihn durch zur Küche. Ein Zettel von Katharina auf dem Küchentisch bestellt ihm liebe Grüße. Auf dem Herd stehen Reste des Mittagessens und die Spülmaschine wartet auf das Ausräumen. Aus der geöffneten Wohnzimmertür strömt ihm ein Hauch von kaltem Rauch der Sandelholzräucherstäbchen entgegen.
Gerd macht sich einen Tee, ißt zwei Brote und sieht dabei die Nachrichten im Fernsehen. Ein kurzer Blick in die Fernsehzeitung belehrt ihn über die virtuellen Morde, Ehebrüche und Gewaltorgien, die das heutige Abendprogramm zu bieten hat. "Wo war denn noch das Buch über die Kathedralen, das Jens mir zu meinem Geburtstag geschenkt hat !". Nach kurzem Suchen hält er den schönen Bildband in den Händen. Die gotischen Kathedralen der klassischen Epoche des 12. und 13. Jahrhunderts auf der Ile de France üben auf ihn schon lange eine unerklärbare Faszination aus. Gerd hatte die Kathedrale von Chartres vor zwei Jahren mit seiner Meditationsgruppe besucht. Er erinnert sich noch genau, wie ihn etwas Altbekanntes, Vertrautes aber Verschüttetes beim Betrachten der Figurengruppen des Nordportals angerührt hat, mehr als er sich selbst eingestehen will. Der harmonische Raumklang des Innenraumes, die Edelsteinfarben der alten Fenster und die gesammelte Weihe des Ortes sind für Gerd damals zum prägenden Gesamteindruck verschmolzen für den Glauben, das Können und die Bewußtheit der Erbauer.
Gerd schlägt das Buch auf. Magische Bilder, schwach erhellt von dem Lichtkegel seiner Leselampe, bauen sich in den folgenden Stunden vor ihm auf. Ab und zu streift sein Blick nach draußen, wo die Dunkelheit inzwischen bis auf die wenigen Autoscheinwerfer alles verschluckt hat.
Der Mond leuchtet fahl und unwirklich auf die Linden und vertieft den Schatten unter Ihren weiten Blätterkronen.
Die Baustelle der Kathedrale liegt im hellen Mittagslicht. Der Zisterzienser - Prior, der dem Bauvorhaben als geistiger Leiter dient, sieht den Baumeister konzentriert und fragend an. Der Baumeister, ein Mitglied einer an den Orden angelehnten Bruderschaft, beobachtet im Kreise seiner engsten Meister, eines Maurers, eines Bildhauers, eines Fliesenlegers und eines Glasers, den Schatten der Maßsäule in der Mitte des Bauplatzes. "Der Sonnenaufgang der heutigen Frühlings- Tag- und Nachtgleiche bestimmt die Ostrichtung, der Schattenwurf zu Mittag bestimmt das Analemma, die Grundlage zur Konstruktion der Sonnenstände über dem Bau für das ganze Jahr. Schon seit der Antike ist dieses Verfahren zur Ausrichtung der Tempel auf die Sonne im Gebrauch, mit dem jedes Maß unserer Kathedrale auf den Sonnenstand und auf unsere Grundflächen bezogen wird. Über diesen Grundflächen, der rechteckigen, der runden und der quadratischen Tafel, werden wir die Kathedrale in den vorgeschriebenen harmonischen Vielfachen dieses Grundmaßes errichten". Der Zisterzienser - Prior scheint von der Antwort des Baumeisters zufriedengestellt. Er weiß, daß dieser Ort der richtige ist, auch wenn die hier ansässige Bevölkerung niemals die Summen aufbringen könnte für den Bau. Der Orden wird seine Verbindungen nutzen, um diese Kathedrale mit Hilfe reicher Bruderorganisationen zu finanzieren. Das Himmlische Jerusalem soll in den richtigen Proportionen und in vollster Harmonie von Erde und Sonne hier erstehen. Dieses Bauwerk als Spiegelung der Schöpfungsgesetze wird die Gläubigen in tiefster Andacht erheben und einige wenige wohl auch zu neuen Menschen erwachen lassen. Der Prior sieht noch einmal prüfend auf den Baumeister und seine Meister. "Nur in völliger Demut, im Bewußtsein Eurer höheren Aufgabe erfüllt Ihr Euren Dienst. Nur dann wird die erhabene Wirkung der Geometrie und der Zahlen gemeinsam mit dem Licht der Fenster in den Gläubigen das Göttliche Licht entzünden, das Himmlische Jerusalem im Glanze erstehen lassen." Die Bauleute hören ernst und schweigend zu, sie kennen ihren Platz und ihren Anteil an diesem großen Werk. Die Grade ihrer Meisterschaft sind auch Grade ihres Verständnisses dieser Zusammenhänge. Die Gesellen wachsen an Ihrer vom Meister zugewiesenen Arbeit, die Tagelöhner verdienen sich lediglich ihren Lebensunterhalt auf der Baustelle.
Es ist kalt und Gerd öffnet benommen die Augen. "Ich muß eingeschlafen sein. Wie komme ich bloß an einen solchen Traum ? Die Bilder des Buches vielleicht ..?" Die Lindenstraße ist jetzt in stilles Vollmondlicht getaucht. Unwirklich und doch hautnah, unglaublich und doch ganz vernünftig - was ist Traum, was ist Wirklichkeit ? Gerd steht langsam auf und schlurft in die Küche. Er will sich mit einem Beruhigungstee auf eine störungsfreie, tiefe Nachtruhe vorbereiten. Gedankenverloren sieht er durch den Glasdeckel auf das kochende, sprudelnde Teewasser im Topf über der blauen Flamme. Im Wasser entstehen Dampfblasen und verschwinden wieder, Wasserdampf kondensiert und Tröpfchen fallen zurück. Wasser im ständigen Kreislauf, Geburt und Tod für jede Blase und für jeden Tropfen, aber dennoch harmonisches Gleichgewicht der Umwandlung des ewig Gleichen.
Die Müdigkeit, das Halbdunkel der Küche, die blaue Gasflamme, das siedende Wasser - Gerd fühlt sich in einen fast gedankenlosen, reinen Empfindungszustand versetzt.
Wer bin ich wirklich ? Bin ich nur diese alternde Figur im Toilettenspiegel ? Woher kommen diese Träume mit soviel innerer Gewißheit und Verbundenheit ? Ich fühlte mich wohl auf der Baustelle, die Meister und ihr Verständnis von technischer Perfektion sind mir näher als alle meine Professoren und Kollegen es jemals waren.
Gerd schüttelt unwillig den Kopf, als wolle er diese Gedanken verscheuchen. "Sollte der Traum etwa meine Entlassung und die folgende Hilfsarbeit auf dem Bau symbolisieren ? Oder ist das die Midlife - Crisis ?" Grinsend schüttet er das sprudelnde Wasser auf den Tee und trägt die Tasse in sein Schlafzimmer. Er setzt sich auf sein Bett und schlürft nachdenklich das heiße Gebräu.
Die Professoren konnten die wesentlichen Fragen der technischen Welt für Gerd nicht erklären. Sinn oder Unsinn technischer Entwicklungen war für sie eine rein wirtschaftliche Frage, höchstens noch eine Frage technischer Machbarkeit. Leerformeln ersetzten bei Erklärungsversuchen oft eigene menschliche Maßstäbe. Menschliche Reifung kam nicht vor als Entwicklungskonzept im Curriculum - und erst recht keine göttliche Schöpfung.
Gerd gähnt, setzt die Teetasse ab, zieht Hose und Hemd aus und schiebt sich genüßlich zwischen Laken und Bettdecke. Der Lichtschalter an der Nachttischlampe ist noch störrisch, aber beim zweiten Mal siegt doch Gerds Ingenieurtalent über die sture Mechanik und Dunkelheit hüllt ihn fürsorglich ein. Der Vollmond wirft sein Licht mild und blaß durch das Fenster auf die kuschelige Bettdecke, als Gerd einschläft.
Kalte Nebelschwaden ziehen über den schmalen, verschlungenen Pfad entlang des Sees. In der Dunkelheit sehe ich nur wenige Meter weit. Ich spüre den See an seinem leisen Wellenschlag, kann ihn aber im Dunkeln nicht erkennen. Eine innige, freundschaftliche Erwartung berührt mich fast körperlich aus dem Nebel vor mir. Ich bin alarmiert, innerlich wach und bereit. Ich spüre, ich werde von einem Teil von mir erwartet. Weisheit, Vertrauen und ein mir verborgenes Wissen sind mit dieser Person im Nebel verbunden. Eine Gestalt löst sich langsam aus dem Nebel und kommt auf mich zu. Ein Mann, ungefähr so alt wie ich, ähnliche Statur, bekleidet mit einem Umhang mit übergezogener Kapuze, die das Gesicht nur schemenhaft erkennbar macht. "Gut, daß Du kommst. Ich warte schon lange." Er hat eine freundliche, volltönende, warme Stimme.
"Wer bist Du ?" Meine Stimme klingt gepreßt. Der Fremde scheint zu lächeln. "Nenne mich Gérard, wenn Du willst. Ich bin der, der das Feuer entfacht und es in Gang hält, seit Ewigkeiten." "Was willst Du ?" "Dich erinnern an Dich selbst."
Gerd wacht schweißbedeckt mit einem Stöhnen auf. "Licht an, wo ist der verdammte Schalter ?! "
Seine Augen blicken gehetzt. Ist der Tee schuld, ist es eine vegetative Störung ? Was in aller Welt kann dieser Traum, können diese Antworten bedeuten ?
Gerd beruhigt sich. Sein Blick heftet sich auf die weiße Decke, auf die das Licht der Nachttischlampe einen Kreis zeichnet. Der Lichtkreis verbürgt Wachheit, Klarheit und Sicherheit - aber die Dunkelheit umgibt ihn, kreist ihn ein, scheint ihn zu umströmen und Gestalten zu gebären.
Gerd wacht am nächsten Morgen durch das mißtönende Piepen des Weckers auf. Mühsam schlägt er die Augen auf, kriecht aus dem zerwühlten Bett und stellt zunächst einmal die Kaffeemaschine an. Dann schlurft er im Schlafanzug vor die Wohnungstür und holt die Tageszeitung.
Flüchtig liest er die Schlagzeilen. Nur kurz huscht ein grimmiges Lächeln über sein Gesicht, als von einer Messevorführung von Windows 98 durch Bill Gates berichtet wird: Bei dieser perfekten Show hatte Bill sein Softwaresystem vor 4000 seiner wichtigsten Kunden zum Absturz gebracht. Gerd und sein Team kennen diese alltäglichen Frustrationen nur zu genau. "Die Softwarebrache wird sich wie Ihre unhaltbaren Versprechungen, ihre Luftschlösser, vielleicht irgendwann in Luft auflösen. " Gerds studiert die Ergebnisse der Untersuchungen zu den Industriespionagevorwürfen gegen Ignacio Lopez. Die Kommentare der Bundesregierung zur Zukunft der Informationsgesellschaft überfliegt er und trinkt seinen Kaffee. Wirtschaft und Politik dirigieren im Chor mit einem Aufguß stets gleicher Behauptungen die für eine Informationsgesellschaft notwendigen Milliardenumsätze in die Richtung der Informationstechnikbranche. "Damit Lieschen Müller video on demand irgendwann doch nicht bedienen kann. Mir soll´s recht sein, EUSOFT soll leben !" Gerd gefällt sich heute morgen im Zynismus. "Für die afrikanischen Hungerkatastrophen, für weltweite Versteppung und Wasserknappheit, für Ozonlöcher und Artensterben müssen eben ein paar Millionen reichen - das Wichtigste zuerst !". Als er dem Klang seiner Worte nachlauscht, spürt er plötzlich dahinter seine Verzweiflung über die raffgierig geplante, perfekt organisierte und präzise durchgeführte Vernichtung der natürlichen Lebensgrundlagen des Planeten.
Die vordergründigen Placebos der Profiteure für die Allgemeinheit sind hohes Steueraufkommen, neue Arbeitsplätze, Zweitfernseher und Drittwagen. Gerd hat plötzlich einen Druck im Magen und fühlt sich mitschuldig wie ein Schauspieler in einem unglaublich schlechten Stück. Heute morgen geht ihm zuviel durch den Kopf. In der Luft liegt eine seltsame Spannung, eine gewittrige Trübung seiner Wahrnehmung. Tiefe Resignation ist gepaart mit prickelnder Neugier. "Wenn dieser Gérard am See aufgetaucht ist im Traum, hätte da nicht auch Venus plötzlich aus dem See auftauchen können ? Was hätte ich dann wohl gesagt ?" Gerd wiegt sich für einen benommenen Moment träge in dieser Vorstellung, bevor er Richtung Bad schlurft. Es klingelt.
Gerd fährt mit seiner Hand durch seine wirren Haare und öffnet etwas übellaunig die Tür. "Ja ?"
Mit offenem Mund stiert er in ein freundlich lächelndes, gebräuntes Frauengesicht. Blaue Augen unter schönen Augenbrauen sehen ihn fragend an. Er kann ihre hohe Stirn, umrahmt von langen blonden Haaren, ihre schlanke Nase und ihren schönen Körperbau umhüllt von einem Morgenmantel im dämmrigen Flur erkennen. Ein überraschend energischer Zug spielt um ihre vollen, roten Lippen. "Entschuldigen Sie bitte die frühe Störung, ich bin ihre neue Nachbarin und habe beim Holen meiner Zeitung die Wohnungstür zugeschlagen. Kann ich von Ihrem Telefon aus den Schlüsseldienst anrufen ?" Gerd wischt sich über die Augen, als ob er einer Fata Morgana gegenüberstände. "Ach, würden sie mich mal kneifen ?" antwortet er und versucht mit Ironie seine plötzliche Unsicherheit zu überspielen. Ihr Lächeln macht einer reservierten Geschäftsmäßigkeit Platz. "Könnte ich vielleicht telefonieren ?" "Ja, natürlich, ich meine, kommen Sie bitte herein."
Sie betritt selbstsicher die Diele und geht federnd zum Telefon, wählt mit ihren feingliedrigen Händen eine Nummer und sagt dann etwas mit ihrer ausdrucksstarken Stimme. Gerd steht gleichsam neben sich an der Tür und beobachtet sie fasziniert und unschlüssig. Ist das jetzt Traum oder Wirklichkeit ? War das jetzt schon wieder einer dieser Zufälle, die seit gestern furios an seinem alltäglichen Lebensrahmen rütteln und ihn vielleicht zu sprengen drohen ? Sie beendet ihr Telefonat, lächelt freundlich beim Hinausgehen und er lächelt freundlich zurück.
Gerd schließt die Tür und steht noch einige Minuten unschlüssig im Flur. Dann schlurft er zur Küche und bleibt wie angewurzelt im Eingang stehen. Auf der Küchenuhr ist es 8 Uhr 30 ! Gerd rennt in das Schlafzimmer, zieht sich hastig an, greift nach seiner Umhängetasche und schließt hastig die Wohnungstür hinter sich ab. Er spurtet die Treppe hinunter, nimmt immer zwei Stufen auf einmal und hoppla - da rutscht er aus auf einer Zeitung, verliert das Gleichgewicht und... .
Gerd kommt langsam zu sich. Er fühlt sich leicht und frisch und erhebt sich. Eine laue, warme Sommernacht voller Gerüche, das Zirpen von Zikaden, eine scheinbar endlose Ebene und ein majestätischer Sternenhimmel umfangen ihn. In einigem Abstand brennt ein helles Lagerfeuer. Beim Näherkommen erkennt Gerd, daß eine schlanker Mann in seinem Alter am Feuer sitzt. Es ist Gérard, der eine dunkle Kombination undefinierbarer Herkunft trägt. Seine blauen Augen lächeln Gerd entgegen. "Setz Dich, Gerd. Wir warten auf die anderen." "Wer kommt den noch ?" fragt Gerd, als er sich links neben Gérard setzt. "Dein Team. Wir haben ein gemeinsames Projekt - Dein Leben." Aus der Dunkelheit löst sich ein schlanker Schatten in einem modischen Sommerkleid. Gerd ist sichtlich elektrisiert, als er die Blonde von heute morgen erkennt, deren Namen er nicht einmal kennt. "Du kannst mich Venusia nennen," sagt sie lächelnd und nimmt halb links ihm gegenüber am Feuer Platz. "Wer sind Sie ?", fragt Gerd sehr vorsichtig. " Ich verkörpere Deine schöpferische Kraft mit all ihrer Schönheit und Harmonie", sagt sie ruhig. Gerd weint. Plötzlich kann er fühlen und verstehen, was ihm stets in seiner Arbeit fehlte, was ihn krank und klein gemacht hatte. Welch eine berauschend schöne Schöpfungskraft steckte in ihm, die er niemals zuvor erkannt und gefühlt hatte. Da spürt er, wie sich links eine weitere Frau neben ihn an das Feuer setzt. "Du ?" Gerd erschrickt, als er plötzlich Katharina erkennt, die da schlank, gerade und präsent direkt neben ihm sitzt. Ihr rotbraunes, kurzes Haar gibt den Blick frei auf ihre grünen Augen in ihrem ebenmäßigen und klaren Gesicht, in dem jetzt ein Mona Lisa - Lächeln tief von innen her zu leuchten beginnt. "Ich verkörpere Deine Kraft zur Selbsterkenntnis. Ich webe den roten Leitfaden Deines Lebens und werfe ihn Dir zu bei Deiner Jagd im Labyrinth Deiner Vorstellungswelten ," singt Katharinas melodische , klare Stimme. Gerd schweigt betroffen.
Da poltert noch einer heran und setzt sich auf einen Baumstamm halb rechts ihm gegenüber. Gerd spürt den kühnen, abschätzenden Blick, die Stärke und den Mut dieses muskulösen Mannes dort. Er trägt einen Brustpanzer mit Wadenschützern und ein Schwert. Sein gelockter Haarschopf, das markante Gesicht und die kühlen Augen wirken auf Gerd einschüchternd. "Ich bin Marsio. Ich verkörpere Deine Führungskraft, Deinen Willen, Deinen Mut und Dein Durchsetzungsvermögen," sagt der Fremde ruhig und kehlig. Gerd schluckt und fühlt sich unbedeutend , klein und verloren im Kreis der Gestalten am Feuer.
Gérard lächelt ihm aufmunternd zu. "Wir mußten uns zu dieser Teambesprechung mit Dir treffen. Du bist dabei, unser gemeinsames Lebensprojekt zu ruinieren".
Gerd schnappt nach Luft. "Wieso ...?" "Wir sind ein Team. Wir sind Kräfte und Aspekte einer ewigen Person - die Du in diesem Lebensprojekt mit uns verkörpern solltest. Uns verstehen ist für Dich Selbst-Erkenntnis. Uns bewußt ausdrücken im Leben ist für Dich Selbst-Verwirklichung". Die eindringliche Stimme Gérards wirkt tief auf Gerd ein und er schweigt benommen.

Dann fragt er zaghaft: "Wieso sehe ich Euch heute zum ersten Mal ?" "Du hast uns in anderen und durch andere in Dein äußeres Leben gelassen - aber nicht unbedingt auf sie gehört. Du hast unsere Impulse von Innen her stets ebenso überhört," antwortet ihm Katharina. Gérard schließt in für Gerd verwirrender Stimmigkeit an ihren Gedankenfluß an, als ob sie aus derselben Quelle schöpften:" Du trennst ständig zwischen innen und außen, glaubst blind an eine nur äußere Realität und den Zufall in Deinem Leben. Weißt Du nicht, daß heiß oder kalt, grün oder rot, Anziehung oder Abstoßung Ergebnisse von Bewußtseinsprozessen sind ? Wo findest Du Deine Realität - außerhalb Deines Bewußtseins ? Es gibt nur eine Welt - innen und außen, diesseits und jenseits sind eine Einheit. Es ist eine Frage Deines Bewußtseins, was Du davon wahrnimmst , was es Dir spiegeln kann !" Gerd hat sich beruhigt. Nachdenklich geworden läßt er versonnen seinen Blick von Gérard aus am Feuer weiterwandern. Marsio hat die Hände über dem rechten Knie gefaltet und scheint Gefallen an dem Gespräch zu finden. Gerds Blick bleibt dann über dem Feuer bewundernd auf Venusia haften, die ihn aufmunternd, aber nicht warmherzig, anlächelt. "Bei meinem Anblick spürst Du Deine Schöpfungskraft, Deine Leidenschaft, Deinen Wunsch nach vollendeter Schönheit und Harmonie. Ich bin vollständiger Ausdruck dieser Kraft - mit der Du was tust ? Du konzipierst eine Systemlösung, Du schreibst ein Pflichtenheft, Du liebst Dich mit Deiner Freundin, Du träumst mit offenen Augen von der hübschen Corinna und von tausend anderen Frauen. Und das ist alles ! Du hast keinen Teil von mir wirklich ausgedrückt, hast nichts wirklich reifen lassen ! Seit Deiner Kindheit Stillstand, Du hast nichts an schöpferischer Kraft in die Vollendung gebracht ! Du hattest den Traum des Baumeisters der Kathedrale. Reden wir nicht von Traum oder Realität, Vergangenheit oder Gegenwart - für uns ist das eins ! Du hast niemals die Vollendung in Deiner Schöpfung, in Deinem Menschsein, zu schöpfen versucht, sonst wärest Du wie der Baumeister irgendwann Gott begegnet. Das Himmlische Jerusalem, Gottes Wohnstatt - wo in Deinen Programmen hätte es Platz ? Vollendung in der technischen Schöpfung, ekstatische Vereinigung von Schönheit, Funktion und Umfeld zu einer himmlischen Harmonie, die keinen Menschen unberührt läßt, die unmittelbarer als tausend Erklärungen zu den Herzen der Menschen spricht - wann hättest Du das jemals versucht ? Was hast Du von der Qualität der Zahlen, der göttlichen Mathematik der Schöpfung oder der Heiligkeit und Wirkkraft geometrischer Formen, der Schönheit eines Dreiecks, in Deinen Programmen jemals gefühlt ? Hast Du die Einheit von Maß, Zahl und Musik in der meisterhaften Schöpfung jemals gespürt ? Was meinst Du, wie Michelangelo, wie Dürer, wie Leonardo, wie die besten gearbeitet haben ? Das Vermächtnis des Baumeisters, der Geruch des Göttlichen in der Schöpfung, die Vollendung und Meisterschaft in jedweder Technik - mit mir könntest Du sie spüren, vielleicht auch selber erschöpfen ! In dieser Haltung haben die Baumeister das göttliche Jerusalem geschaffen und haben es der vollendeten Schönheit der Maria geweiht. Und was hast Du geschöpft ?" Sie lacht hart und laut. " Du hast mich mit in Deinem Leben zu einer schwächlichen, käuflichen Dirne degradiert !" Ihre Augen sprühen Feuer, aber Gerd ist ihrem kraftvollen Ausbruch, ihrer enormen Anziehungskraft und ihrer gebündelten Leidenschaft nicht mehr gewachsen. Er ist in sich zusammengesunken, hat den Kopf auf die Brust fallen lassen und stiert trübsinnig in das hell lodernde Feuer. Leise und wie um sich zu rechtfertigen murmelt er in die Flammen :" Aber ich kannte Dich doch gar nicht - wie sollte ich das alles wissen ?" "Hast Du nicht immer die Sehnsucht gespürt nach mir, hast Du nicht immer die Schönheit vermißt in Deinen Gedankenschöpfungen ? Einseitig und willig hast Du mich nur als Hühnerleiter für die gackernden Gedanken Deiner flachen Arbeitswelt benutzt ! Wie wenig bist Du Meister, In-genieur, der seinen Genius in sich spürt und ihn in seinen Werken ausdrückt, zum Fließen bringt !" Venusias Augen blitzen in seine Richtung. Gerd blickt weiterhin apathisch in die Flammen. Er läßt die Schultern müde vornüberhängen und scheint unerfreulichen Gedanken nachzugeben. Nach einer Weile durchbricht Gérard die Stille mit seiner ruhigen, freundlichen Stimme." Gerd, wir müssen die sinnvolle Orientierung für unser gemeinsames Lebensprojekt wiederfinden. So, wie Du jetzt lebst, kommt es nicht zum Ziel. Oder willst Du unseren gemeinsamen Sinn verleugnen ?" Gerd sieht Gérard überrascht an. "Wer hat uns den Sinn gegeben ? Und was ist der Sinn ?" "Laß uns über Sinn und Zweck des Ganzen reden," meint Gérard. Sein Blick ist etwas besorgt, aber seine lockere Haltung und seine warme Stimme drücken Mitgefühl und Verständnis aus. "Du arbeitest nicht nur, um zu leben. Aber ist Eure Vision der Informationsgesellschaft nicht nur Mittel zum Zweck ? Was ist dieser Zweck ? Wer soll davon profitieren, außer den Lieferanten ? Wird das Gemeinwohl erhöht, wird das bedrohliche Ungleichgewicht in der Schöpfung dadurch verringert ? Oder wird im Gegenteil damit die Ausbeutung von Mensch und Natur verstärkt ?" Gerd wirkt unschlüssig. " Sicherlich ist der Zweck weniger am Gemeinwohl orientiert, als Politiker und Manager sich und uns glauben machen wollen. Aber wer kann sich dem Zug der Zeit entgegenstemmen ?" Da dröhnt Marsios Lachen rauh über das Feuer. Er hat den Kopf zurückgeworfen und scheint die Sterne verhöhnen zu wollen. " Ist es so kompliziert ? Die Eroberung der Welt, die Macht über Menschen, die Überwindung der Angst vor der eigenen Nichtigkeit sind der Zweck, sind das Ziel ! Weltreiche werden heute mit Notebook und Checkbook erobert, Macht wird über Information und Manipulation gesichert ! Es sind dieselben dunklen Männer des Schwertes, seit Jahrhunderten, mit Ihren geschmeidigen Geliebten und ihren gut bezahlten Truppen. Gefällt Dir Deine Rolle als Offizier in diesem Eroberungskrieg gegen Natur, Mensch und Gott ?" Gerd setzt sich unwillkürlich gerade und blickt in die abtastend forschenden Augen Marsios. Gerds Hände werden etwas feucht, aber er antwortet mit gezwungen ironischem Unterton. :" Also wäre Bill Gates unser Cäsar und Ignacio Lopez der Nero ?" Marsio lacht kurz und nickt bedächtig." Sie erobern Weltreiche - in Gestalt neuer Märkte ! Die Imperien haben riesige Sklavenheere - in den Billiglohnländern. Ihre Armeen hungern unbefestigte Städte aus - in den Millionenstädten der armen Welt. Ihre weltweiten Söldnerheere sind gut bezahlt, gut ausgebildet und mit allem Verfügbaren ausgerüstet - Ingenieure, Juristen, Arbeiter. Ingenieure führen als Offiziere die Truppen, bilden sie aus und bauen die Waffen. Die Söldner kennen das Maß Ihres Erfolges - Kapitalrückfluß. Sie erobern dafür ständig neue Landstriche - um sie abzuholzen, anzubohren, aufzuschließen und auszubeuten. Sie werfen sich ohne Rücksicht auf Ihre mittelfristige eigene Vernichtung in diese Schlacht mit der Natur - das nenne ich kühn !" Marsios Stimme klingt zum Schluß ätzend ironisch. Gerd fühlt sich gedemütigt, provoziert und gereizt. " Das gilt jedenfalls nicht für EUSOFT ! Wir beteiligen uns nicht an dieser Strategie ! Bei uns werden die Mitarbeiter geachtet und die Umwelt wird auch nicht zerstört !" Marsios fordernd ironischer Blick ist unverwandt auf Gerd gerichtet und scheint ihn zusammenzuschnüren." Ach, Deine Kunden sind nicht Teil der Weltwirtschaft ? Die von Euch gelieferte Informationstechnik dient bei Deinem Kunden Zocker & Pröll nicht der Steuerung der weltweiten Abholzungskampagnen für Wegwerfwindeln ? Ihr haltet nicht mit Eurer ganzen Energie dieses Räderwerk in Gang ? Und Dein Team , wenn man Euch glauben darf - ist der wirtschaftliche Nutzen Eurer Kunden nicht auch für Euch oberste Maxime ?" Gerd schweigt verkniffen. Das bisherige Gespräch hat sein Selbstverständnis, seine Lebensführung und seine so sicher geglaubte gesellschaftliche Rolle bis zur Unkenntlichkeit verändert. "Also bin ich ein unreifer, verantwortungsloser, selbstgefälliger und dummer Wasserträger ?!" , fragt er gepreßt mit gespielter Ironie in der Stimme. Statt einer Antwort breitet sich lähmende Stille aus. Alle Fünf schweigen. Gerd spürt das kühle Glitzern der Sterne auf seiner Kopfhaut, sieht in das Prasseln der Flammen, spürt die dichte Nähe der anderen. Eine Sternschnuppe fällt in den Horizont, unendlich weit, unendlich kalt, ungeheuer klar.
Gerd atmet tief ein und sieht sich abweisend um." Und wenn ich nun wahnsinnig wäre ? Ich rede hier nach meinem Unfall offensichtlich mit inneren Gestalten - oder mit Wahnbildern ... !" Gérard mustert gedankenverloren den Sternenhimmel, als wolle er aus der Konstellation eine passende Antwort ablesen. "Also, Du glaubst zu halluzinieren - und C.G. Jung, die Alchemisten, Sokrates, Platon und Goethe waren auch die Treppe hinuntergestürzt ? Sie nannten uns Archetypen, Ideen, Götter, ihren Daimon oder ihren Mephisto - je nach ihrer Zeit. Ob wir nun Kräfte des Unbewußten, Kräfte des Überbewußten oder einfach nur Dein Wille, Deine Kreativität, Deine Seelenqualität und Dein geistiger Horizont sind - was ändert der Titel ? Über dem Eingang zum Apollo - Tempel in Delphi stand ´Erkenne Dich selbst, und Du wirst das Universum und die Götter kennen´- Phrase oder Realität ? Erkenne Du Dein Selbst - und Du wirst uns kennen. Deine Unzufriedenheit, Deine Sinnlosigkeit, Dein Überdruß und Dein Sarkasmus hätten Dich warnen müssen - diese Stunde der Wahrheit mußte kommen. Du glaubst zu kontrollieren und bist Spielball, Du glaubst zu führen und wirst verführt, Du glaubst zu zielen und bist nur Pfeil auf dem Bogen Deines Schicksals. Erkenne Dein Selbst und der Pfeil trifft ins Zentrum !"
Gerd ist verwirrt. Gleichzeitig ist er so lebendig, so voller Lebensfreude und voller Ehrfurcht wie zuletzt in seiner Kindheit. Er fühlt sich erkannt - und trotz seiner Mangelhaftigkeit bereichert, als ob ihm alte Freunde die kostbarsten Geschenke brächten. Er weiß, daß diese Begegnung entscheidend ist.
Über dem lodernden Feuer in der tiefen Stille und Weite der Sommernacht glitzern die Sterne wie magische Formen überirdischer Ordnung, die sich als Kuppel über die fünf Gestalten am Feuer wölbt und sie zu einer Einheit verschmilzt.

Gerd erwacht mit Kopfschmerzen im Krankenhaus. Er betastet vorsichtig seinen Kopfverband. Als er dann aus dem Fenster in das blaße Grau des Nachmittages sieht, fühlt er sich zum ersten Mal seit seiner Kindheit vollständig alleingelassen. Er weiß, daß er jetzt die Wahl hat, sein Erlebnis einer Wahnvorstellung zuzuschreiben oder dem lebendigen Strom, der neugierigen Lebensbejahung in seinem Innern zu folgen.
Es klopft und seine Freundin Katharina kommt verhalten lächelnd mit einem Strauß roter Rosen zur Türe herein. "Katharina !" Gerd ist überrascht, erfreut und geborgen in ihrer Gegenwart. Sie lächelt verstehend und küßt ihn. "Du bist wohl etwas zu schnell gewesen heute morgen. Unsere neue Nachbarin hat Dich gefunden und den Notarzt alarmiert. Dann hat sie mich angerufen - und hier bin ich." Während er ihre Hand ergreift, pocht der Gedanke in seinem Schädel, ob er seinen grauen Alltag mit den strahlenden Sternen dieser Reise verbinden kann. Würde er dieses Mal richtig wählen - oder würde sein nächtlicher Sternenweg verblassen wie ein längst vergangener Traum ?
 
 
 
 

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