"Kreativität und die Problematik der morgigen Welt"

Der Intellektuelle, der nur auf sprachliche und logische Fähigkeiten vertraut, ist zum kreativen Denken unfähig, denn kreatives Denken verlangt eine Kombination von Einsicht und Intuition in Verbindung mit sprachlichen und logischen Fähigkeiten.
Michael LeBoeuf (aus :"Imagination, Inspiration, Innovation")

Kreativität und Innovation sind Schlüsselbegriffe zum wirtschaftlichen Überleben unserer westlichen Hochlohnländer. Eine Studie des Hochschul-Informations-System der Uni Hannover vom März 1995 formuliert das Berufs- und Einsatzprofil von heutigen Ingenieuren wie folgt:
"Die technisch beste Lösung ist noch lange nicht die betriebswirtschaftlich ertragreichste, die ökologisch verträglichste und die sozial optimale Lösung. Mehr denn je müssen Ingenieure eine Sensibilität für andere Denkrichtungen und gesellschaftliche Prozesse entwickeln... um intelligente Lösungen zu finden und damit den Standort Deutschland längerfristig zu sichern".

Ingenieur-Kreativität wird vor allem auch durch die ökologischen Rahmenbedingungen erzwungen. Eine der prominentesten Zukunftsprognosen stammte 1972 vom Club of Rome mit dem Titel "Die Grenzen des Wachstums". Sie wurde 1992 von einem der Autoren, Dennis Meadows, im Buch "Die neuen Grenzen des Wachstums" nachgeprüft. Er stellte fest, daß bei einem "weiter so", auch in abgeschwächter oder ökologisch gewandelter Form, bei den von ihm simulierten Entwicklungs- szenarien in 30-60 Jahren ein Zusammenbruch des Lebensstandards , des Industrieoutputs und der Nahrungsmittelproduktion zu erwarten sei. Als Folge würde eine Abnahme und Verelendung der Weltbevölkerung eintreten. Er sah als einzigen Ausweg eine wirklich radikale Änderung unserer Industrieproduktion und forderte "nachhaltiges Wirtschaften" .
Meadows schreibt :" Die Nutzung vieler natürlicher Ressourcen und die Freisetzung schlecht abbaubarer Schadstoffe haben bereits die Grenzen des physikalisch auf längere Zeit möglichen überschritten.... Eine dauerhaft existenzfähige Gesellschaft ist technisch und wirtschaftlich noch immer möglich.... Dazu ist mehr erforderlich als Produktivität und Energie. Gefragt sind heute Reife, partnerschaftliches Teilen und Weisheit ".

Ingenieur-Kreativität und Innovation sind Voraussetzungen zum Überleben auf diesem Planeten. Zur Zeit investieren wir allerdings kaum in Technologien, die mittelfristig eine Zukunft haben könnten, wie z.B. Photovoltaik und die Wasserstoffwirtschaft. Es gibt scheinbar kein tragfähiges Motiv, die rational erkannten Gefährdungen ernstzunehmen, wie auch die Weltklimakonferenz in Berlin gezeigt hat. Das nur rational Erkannte hat nicht die Kraft, uns zum Handeln und zum Umsteuern zu motivieren. Wir sind bei der Frage nach unseren Motiven mit uns selbst alsbewußten schöpfe- rischen Wesen konfrontiert, mit unserem Glauben, unserem Gefühl und unseren gesamten Wahrnehmungsmöglichkeiten. Es zeigt sich dabei, daß eine rein mechanische Korrektur unseres
Handelns, quasi ohne innere Veränderung, nicht ausreicht. Ein innerer Quantensprung in unserer Art dazusein in dieser Welt ist nötig, der in eine geänderte Art zu handeln in der Welt mündet.
Wir stellen damit auch unser Bewußtsein heute auf den Prüfstand der folgenden Betrachtungen.

Eine weitere Herausforderung für Ingenieur-Kreativität liegt im wachsenden Verantwortungsdruck. Die Folgen unserer heutigen Handlungen bestimmen die morgige Welt - wie handeln wir richtig ?
Diese Frage sprengt die bisher so sichergeglaubten Abgrenzungen zwischen Natur - und Geisteswissenschaften, zwischen Technik und Religion. Im Symposium "Technik 2000 - Herausforderung für die Religionen" der niedersächsischen Ingenieurkammer wurde die
Erarbeitung einer gemeinsamen Wahrnehmung und die Übernahme von Verantwortung für die technische Schöpfung aus ganzheitlicher Sicht gefordert. Dr. Werner Meihorst betont im Vorwort zum Tagungsband, daß die Überbrückung dieser Abgrenzungen sich nicht nur lohne, sondern zum Überleben der Menschheit auf diesem Planeten von entscheidender Bedeutung sei.

In diesem Sinne ist Kreativität mehrfache Grenzüberschreitung :
Sie übersteigt das rationale Denken, überbrückt die obengenannten Abgrenzungen und bringt uns als ganze Menschen, nicht nur als Funktionsträger, ins Spiel.
Kreativität ( lat. creatura - Schöpfung) ist ganzheitliche Schöpfungsfähigkeit, die sich im Verknüpfen zunächst scheinbar unzusammenhängender Fakten zu Bildern , Visionen oder Zusammenhängen ausdrückt. In diesen Bildern und deren innewohnenden Zusammenhängen "denkt" der schöpferische Mensch. Architekten, Bauingenieure und Maschinenbauer wissen, daß ein "schöner Entwurf" auch gleichzeitig ein Qualitätsmaß für eine gute technische Lösung ist.
Der berühmte Brückenbauer Fritz Leonhardt schreibt 1993 im VDI nachrichten magazin:
"Ich habe mich über sechs Jahrzehnte mit der Gestaltung von Bauwerken und mit der Beurteilung schönheitlicher Eigenschaften beschäftigt. Menschliches Wohlbefinden, Freude am Leben und seelische Gesundheit hängen entscheidend von den schön heitlichen Qualitäten unserer Umwelt ab ".
Er konstatiert bei heutigen Bauwerken Monotonie, Kälte, Enge, Unruhe und mangelnde
Komposition und folgert daraus:" Deshalb braucht der Enwerfende Formgefühl, Phantasie, Intuition und Sinn für Schönheit, das zusätzlich geschult und ausgebildet werden muß".
Kreativität wirkt in der Verbindung von Intuition, Phantasie und Faktenwissen, wie die folgenden Aussagen von kreativen Wissen schaftlern und Künstlern zeigen.
Darwin schreibt zu seinem Evolutionsgesetz : "Ich kann mich sogar an die Stelle auf der Straße erinnern, wo mir zu meiner Freude plötzlich die Lösung erschien, während ich in der Kutsche saß".

Von Newton ist überliefert, daß er sein Gravitationsgesetz beim Fallen eines Apfels erkannte.

Einstein schreibt: "Die Worte oder die Sprache in geschriebener oder gesprochener Form scheint für meinen Denkmechanismus keine Rolle zu spielen. Die psychischen Entitäten,..,sind bestimmte Zeichen und mehr oder weniger klare Bilder, die reproduziert und kombiniert werden können".

Einfälle passieren oft in Momenten der Entspannung, in denen die Gedankenarbeit, die eigentlich eher eine Vorbereitung zur Lösungsfindung ist, verlassen wird und eine Eingebung empfangen
werden kann, die sich oft über einen visuellen Eindruck übermittelt. Loslassen von Voreingenom- menheiten und geistige Wachheit sind Voraussetzungen dafür.
Ich glaube , jeder kennt die Situation, in der eine schwierige Aufgabe verbissen durchdacht wird, ohne sie zu lösen. Zuhause unter der Dusche oder im Wald kommt dann plötzlich der Einfall,
die Lösung, mit der inneren Sicherheit "Das ist es !".
Picasso bemerkt :"Der Künstler ist ein Gefäß für Gefühle, die von überallher kommen, vom Himmel, von der Erde, von einem Fetzen Papier, von einer vorbeiziehenden Gestalt, von einem
Spinnennetz ...".
Heisenberg schreibt in 'Der Teil und das Ganze':" Da erscheint auf einmal vor unserem geistigen Auge ein Zusammenhang, der auch ohne uns und schon immer dagewesen ist und ganz offensichtlich nicht von Menschen gemacht ist. Solche Zusammenhänge sind doch wohl der eigentliche Inhalt unserer Wissenschaft".
Der eingangs erwähnte Michael LeBoeuf zitiert ähnliche Aussagen und gehirnphysiologische Untersuchungen, nach denen Kreativität im Zusammenspiel der rechten und linken Gehirnhälfte stattfindet, wobei wir zum rationalen Denken nur die linke Hälfte benutzen.

Im kreativen Prozess kann man eine geistige, wissenschaftliche und gefühlsmäßige Grenzüber- schreitung sehen, da kreative Einsichten sehr stark motivieren, oft mit Sinn-Erkenntnis verbunden sind und bisher unbekannte Zusammenhänge von Faktenwissen herstellen oder erahnen lassen.
Man muß diese Einsicht dann überprüfen und mundgerecht machen, sie ausfeilen. Diese Ausarbeitung kann lange dauern. Vielleicht kommt daher der Einstein zugeschriebene Ausspruch , daß Genialität zehn Prozent Inspiration und neunzig Prozent Transpiration sei.

Kann diese kreative Fähigkeit , die bisher schon von einer wissenschaftlichen und künstlerischen Elite bewußt genutzt wurde, für jeden Ingenieur zum täglichen Arbeitsablauf gehören ?
Ich denke, daß die Zeit reif dafür ist, zumal der gesellschaftliche Druck in Richtung Kreativität auch wegen der enormen ökologischen Folgekosten unserer Wirtschaft zunimmt.
Die eingangs zitierten Anforderungen an die Ingenieurarbeit heute und morgen lassen sich m. E. anders nicht erfüllen. Die "weiche" kreative und sinnvolle Umsetzung und Kombination von
vorhandenen Techniken und Erkenntnissen unter Betrachtung der Welt aus neuer, ganzheitlicher Sicht bringt nachhaltige Innovationen hervor, wie recyclinggerechte Konstruktionen oder schad-
stoffarme Produktionsprozesse. Zusätzlich wird eine Beantwortung der persönlichen und vielleicht auch technologischen Sinnfrage ermöglicht. Wir brauchen kreative Menschen, wobei die Ingenieu-
rausbildung Phantasie und Intuition mit dem Faktenwissen kombinieren muß, wie Fritz Leonhardt forderte .
Ein kreativer Aufbruch, ein geistiger Quantensprung könnte Europa kulturell und technisch neu befruchten. Die Sehnsucht vieler Ingenieure nach Sinn und Orientierung könnte in konkretes Handeln münden, wodurch sich individuelle Zukunftsangst in Hoffnung und Pessimismus in Schöpfungsfreude wandeln könnte.

Hugo Kükelhaus schreibt :" Wir sind heute in der glücklichen Lage, ohne Ausweg zu sein".
In diesem Sinne ist der heute notwendige Umbruch auch ein Evolutionssprung, den William Ruckelshaus mit der industriellen Revolution vergleicht und der damit auch die große Chance unserer heutigen Zeit darstellt.
 

Dieser Artikel wurde 1995 im Deutschen Ingenieurblatt veröffentlicht.