"Die Suche nach einem roten Faden der

europäischen geistigen Entwicklung"

Von Günter Stock

Copyright 1999

"Es gibt heute eine Lawine des Faktenwissens, aber ich finde fast kein Orientierungswissen mehr, obwohl ich gerade danach suche".
Diese Aussage einer Seminarteilnehmerin verweist auf eines der wesentlichsten Probleme heute. Alles scheint gleich gut oder schlecht, eben egal. Das Internet und die Massenmedien strengen sich an, diese moderne "Multi-Werte"-Orientierung(slosigkeit) zu vermitteln. "Jedem seine eigene Wahrheit…". Wird uns damit nicht die Orientierung abgeschnitten, werden wir nicht dem platten Materialismus ausgeliefert ?
Es scheint nur noch ein Dogma unwidersprochen festzustehen: Die Wahrheit des Urteiles der Marktkräfte, denen in dieser Orientierungskrise so etwas wie eine letztinstanzliches Wahrheit über Sinn und Unsinn einer Entwicklung zugesprochen wird.

Wenn wir uns fragen, wohin das führt, werden wir auf die vielversprechende Zukunft verwiesen, in der Lebewesen patentiert werden, Ozonlöcher und Wasserknappheit die Regel sein werden und das Wirtschaftswachstum sich von vielen Menschen entkoppelt haben wird, denen es einst diente.

Gibt es unter diesen Umständen noch eine sinnvolle Orientierung für uns ? Gibt es sinnvolle Entwicklungswege, die diese vermeintlichen "Erfolge" unserer neuzeitlichen Einstellung zur Welt und zum Leben vermeiden und unser Handeln in ein wahrhaftiges, menschlich reifes Sinngefüge einbetten ?

Wenn es darum geht, die Zukunft vorzubereiten, müssen wir als erstes unsere Ausgangslage erkennen. Dazu gehört zweifellos auch die Frage nach unserer kulturellen, spirituellen und wissenschaftlichen Tradition, genauso wie die ernsthafte innere Suche nach dem, was wir selber sind. Es ist vielleicht doch ein wenig erstaunlich, daß Antworten auf solche Fragen auch vor nunmehr 3000-5000 Jahren in Ägypten gegeben wurden.

Ägypten und Griechenland sind Wiegen europäischer Welterkenntnis und menschlicher Selbsterkenntnis. Vielleicht können wir ja heute doch etwas von den geistigen Konzepten einer über 3000 Jahres dauernden Gesllschaft lernen. Vielleicht führt unsere Suche uns auch in dieser Richtung zu den europäischen geistigen und seelischen Grundlagen.

Mystisch-magische Wissenschaft, Kultur und Religion schufen in Ägypten von 3000 v. Chr. bis zur Zeit Christi eine der Quellen, mit deren Lebenswasser der europäische Mensch aufwuchs und auf deren Fundamenten auch das Christentum erblühen konnte. Eine der wesentlichsten tradierten Quellen abendländischer Weisheit ist die sogenannte hermetische Wissenschaft. Das Wort hermetisch ist abgeleitet von Ihrem Stifter Thot (in Ägypten), der in Griechenland Hermes genannt wurde. Diese Quintessenz einer intensiven mystischen Welterkenntnis, die uns teilweise heute wieder sehr zeitgemäß und modern anmutetet, wurde ursprünglich nur von Mund zu Ohr weitergegeben, um sie vor Mißbrauch zu schützen. Sie wurde später im sogenannten Kybalion aufgeschrieben. Das Kybalion beschreibt eine fundamentale Selbsterkenntnis, die gleichzeitig Welterkenntnis ist, und die in sieben hermetischen Prinzipien dargelegt wird. "Es gibt sieben Prinzipien der Wahrheit. Der diese kennt mit vollem Verständnis, besitzt den magischen Schlüssel, bei dessen Berührung sich alle Tore des Tempels öffnen" (Kybalion). Aus diesem Stamm abendländischer Erkenntnis schlug später in Griechenland mit Pythagoras das griechische Wunder als Ast aus. Aber auch die moderne Naturwissenschaft und Technik kann als Ast an diesem Baum abendländischer Kultur und Naturwissenschaft verstanden werden.

Gemeinsam mit der Frage nach uns stellt sich im Kybalion immer auch die Frage nach dem Kosmos, nach Gott – nach den uns hervorbringenden Kräften und unseren Verbindungen mit diesen Kräften. Aus der Verbindung beider Sichtweisen, also unserem inneren und unsrem äußeren Bild von der Welt, ergibt sich dann der Sinn, die Orientierung, eine Antwort auf das "Woher, warum, wohin" unserer Existenz, die immer eingebettet ist in die Sinnfrage der Entwicklung der Welt.

Wenn unsere Eingangsbemerkungen auch stark auf das Außen deuten, auf die Probleme, die unsere Entscheidungen und Maßnahmen heute und für unsere Kinder hervorrufen, so stecken doch stets dahinter unsere heutigen Werthaltungen und unser Bild des Kosmos und Gottes, also der uns umfassenden und überschreitenden Zusammenhänge. Gerade der Ersatz der göttlichen Instanz durch die Marktkräfte, durch die Beliebigkeit, und die Unterwerfung unter unseren Egoismus ist demnach heute eine Hauptursache unserer Probleme.
 

Welches sind nun diese Wurzeln der abendländischen geistig-seelischen Entwicklung, die im Kybalion vorgestellt werden ? Wenn wir zu Beginn nach sinnvoller Orientierung für unsere Zukunft fragten, welche Orientierung könnte das sein und was könnten wir demnach für uns heute lernen ?

"Die Ägyptische Zivilisation war eine magische, wobei Magie die höchste Stufe der priesterlichen Einweihungen darstellte", schreibt Frédéric Lionel über Ägypten. Magie bedeutete dabei nicht das Aufsagen von Zauberformeln oder Ähnliches, sondern es ging um eine innere Wandlung und um die Freisetzung menschlicher Fähigkeiten, die oftmals heute unerweckt bleiben. Die Sätze des Kybalion sind eigentlich in ihrer Tragweite nur verständlich nach der Erweckung dieser eigenen Wahrnehmungsfähigkeiten. "Die Einweihung in die Mysterien, die nur Auserwählten vorbehalten war, enthüllte ihnen das Gesetz, dem die durch die Götter personifizierten Energien gehorchten und die beste Weise, diese zu leiten", schreibt Frédéric Lionel dazu.

Die Magie als höchste Stufe der Einweihung erforderte eine tiefgehende geistige Wandlung, von der wir uns heute kaum noch genaue Vorstellungen machen können. Die Gesetze dieser Wandlung sind Gesetze des Kosmos und der menschlichen Entwicklung allgemein. Sie wurden über Jahrhunderte unter dem Namen "hermetische Gnosis" meist von Mund zu Ohr weitergeleitet. Thot bzw. später Hermes Trismegistos, der dreifache Meister , war der Lehrer aller magischen und kulturschöperischen Fähigkeiten der Ägypter (Schach, Hieroglyphen, Alchimie, Astrologie , Zahlenphilosophie..), somit eigentlich auch Quelle der ägyptischen Zivilisation.

Die Tradition dieser hermetischen Gnosis durchzieht die abendländische Geistesentwicklung wie ein Lichtfaden, der von Thot, über Pythagoras, über die Texte des alten Testaments, über die kirchlichen Orden, über die Alchimisten, Templer und Wissenschaftler zu uns in die Neuzeit führt.

Dieser verbindende Lichtstrang, dieser rote Faden drückt die Wandlung des Menschen, sein Verhältnis zum Kosmos und zur göttlichen Schöpfung aus. Die Gesetze des Kybalion und analog der Smaragdtafel des Hermes Trismegistos sind die Quintessenz dieser Tradition.
 

"Geist (sowie Metalle und Elemente) kann verwandelt werden von Zustand zu Zustand, von Grad zu Grad, von Lage zu Lage, von Pol zu Pol, von Schwingung zu Schwingung" (Kybalion). Sieben hermetische Prinzipien umfassen diese Sicht auf uns und den Kosmos.

"Es gibt sieben Prinzipien der Wahrheit. Der diese kennt mit vollem Verständnis, besitzt den magischen Schlüssel, bei dessen Berührung sich alle Tore des Tempels öffnen" (Kybalion)


"Das All ist Geist, das Universum ist geistig"
 


"Wie oben so unten, wie unten so oben um das Gesetz des Ureinen zu bezeugen"
 


"Nichts ist in Ruhe, alles bewegt sich (im Herzen des Ureinen in der furchteinflößenden Magie des Rhythmus), alles ist in Schwingung"
 


"Alles ist zweifach, alles hat zwei Pole, alles hat sein Paar von Gegensätzlichkeiten; Gegensätze sind identisch in der Natur, nur verschieden im Grad.."
 


"Alles fließt aus und ein, alles hat seine Gezeiten. Das Maß des Schwunges des Pendels nach rechts ist das Maß des Schwunges nach links.. Rhythmus kompensiert"
 


"Jede Ursache hat ihre Wirkung, jede Wirkung ihre Ursache; alles geschieht gesetzmäßig; Zufall ist nur der Name für ein unbekanntes Gesetz"
 

           "Alles hat weibliche und männliche Prinzipien, die sich auf allen Ebenen offenbaren".
 
 

Und was können wir heute damit anfangen, könnte man fragen ?

Die moderne Physik bestätigt heute den materiellen Teil der Wahrheiten von vor 5000 Jahren. Das alleine reicht vielleicht schon, um die Tragweite der Erkenntnisse unserer Vorfahren anzuerkennen. Die unternnbar damit verbundene zweite Hälfte, die innere Seite, der polare Teil des Kybalion, wird heute völlig ignoriert.

Dieses "geistige Universum" des Kybalion wird vom Materialismus verlacht oder ideologisch abgeleugnet. Unsere Zivilisation krankt aber gerade daran, daß keine Bezüge zur geistigen Welt mehr gesehen werden, daß keine Bezüge zu Gott, zum Sinn der Schöpfung und zu unserem Platz in dieser Schöpfung mehr hergestellt werden.

Wir haben deshalb heute dieses völlig verzerrte, einseitige Bild von uns und der Welt, das zu völlig absurden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen führt. Man könnte im Angesicht unserer Entwicklungen schon bezweifeln, daß wir mit diesem Ansatz auch nur 100 Jahre durchhalten können im Vergleich zu den 3000 Jahren der ägyptischen Zivilisation.

Die Tragweite dieser sieben Sätze kann uns unseren Mangel vielleicht doch bewußter machen, um uns dem Prozeß unserer Ganzwerdung zu stellen.