Nachruf auf Frédéric Lionel

 
                                                 von Günter Stock
Der international bekannte Philosoph und Schriftsteller Frédéric Lionel hat am 22. Dezember 1999 abends in Paris im Kreise seiner Familie dieses Dasein verlassen. Mit ihm ist einer der ganz Großen von uns gegangen.
"Wie kein anderer hat dieser ebenso weise wie zukunftsweisende Europäer in Vorträgen und Seminaren die initiatische Botschaft der abendländischen Tradition seinen Zuhörern übermittelt. Deutsch und Englisch wie seine französische Muttersprache sprechend, lehrte er über drei Jahrzehnte in Frankreich, England, Deutschland, der Schweiz und den USA. Seine Worte waren ein Quell der Inspiration".
(N.F. Weitz Verlag, Aachen).
Wir konnten ihn über zwei Jahrzehnte regelmäßig bei seinen Vorträgen und Seminaren in Köln, Bonn und Aachen selber erleben. Was wir auch immer im nachhinein zu seiner Würdigung sagen können - es wird nicht alles Wichtige angesprochen werden können. Vielleicht kann noch nicht einmal der Kern der Erfahrungen berührt werden, die er bei Lesern dieser Zeilen persönlich auslösen konnte. Insofern kann es nur ein Versuch sein, diesen von uns allen so hoch geachteten, geschätzten und geliebten Menschen zu würdigen, der uns durch seine Worte und durch sein authentisches Sein in so vielen Vorträgen, Seminaren, Gesprächen und Lebensfragen geholfen, geführt und geleitet hat.Es sollen im folgenden deshalb wichtige Momente und Streiflichter seines Lebens im Zusammenhang dargestellt werden, um uns sein Lebenswerk deutlich vor Augen halten zu können.

Am 4. Juli 1908 wurde Frédéric Lionel am Ufer des Genfer Sees geboren. Sein Vater war Ingenieur und Erdölexplorateur, der es bei seiner Suche nach dem Schwarzen Gold zu Wohlstand gebracht hatte. Frédéric Lionel wuchs dreisprachig in einem wunderschönen Haus am Genfer See auf, umgeben von einem zeitlos dastehenden Park. Die Harmonie und Würde dieser Umgebung bezeugen heute noch seine von ihm selber als glücklich beschriebene Kindheit.
Er ging in Lausanne zum Lyzeum und studierte danach in Zürich an der Technischen Hochschule Maschinenbau, dann in Amerika Kybernetik. Anschließend gründete er in den dreißiger Jahren in Paris eine Firma zur Anwendung dieser neuen Technologie für Radar- und Elektronikentwicklungen. Er war damit auch ein Wegbereiter des Informationszeitalters. Schon damals beteiligte er seine Mitarbeiter an Gewinn oder Verlust der Firma. Seine gelebte Kompetenz berechtigte ihn später wie kaum einen anderen Philosophen, die Gefahren und Perspektiven unserer technisch-wissenschaftlichen Gesellschaft zu hinterfragen und deren notwendige Beziehung auf die Weisheitstradition des christlichen Abendlandes einzufordern.
"Der durch die wissenschaftliche Forschung geweckte Fortschrittsgeist kann nur auf dem Boden der ewigen Weisheit wahrhaftig erblühen. Nur sie gestattet eine permanente Erneuerung des Ausdrucks menschlicher Erfahrung im Geschichtsprozeß." (F. Lionel: "Eine neue Wertordnung für eine neue Zeit", Ariston).
Zu Beginn des zweiten Weltkrieges emigrierte Frédéric Lionel mit seiner Familie nach England. Er entschied sich dort aber nicht für die scheinbare Sicherheit, sondern versuchte das schier Unmögliche, die gefahrvolle Rückkehr ins besetzte Frankreich. In einem Buch beschrieb er seinen inneren Kampf:
"Nimm Dein Schicksal in Deine Hand ! Habe den Mut - jetzt ! Deine Entscheidung entspricht einer zutiefst inneren Berufung. ..In diesem Augenblick entschied sich mein Schicksal - ich überschritt eine Schwelle" (F. Lionel: "Die Entscheidung", Edition Ambra).
Im Zurücklassen jeglicher Sicherheit und in der Annahme seines Schicksals ging er mit falschen Papieren in den Untergrund, um unter Einsatz seines Lebens für die Freiheit zu kämpfen. Scheinbar unzusammenhängende Fäden wurden vom "sogenannten Zufall", der ihm eigentlich Fügung war, in diesen Jahren geknüpft zu einem faszinierenden Gewebe seines Wirkens.
Er rettete ca. 1300 Menschen das Leben unter ständiger eigener Lebensgefahr, wurde Major des Britischen Secret Service und schmuggelte Verfolgte aus der Festung Europa. Er sammelte als ständiger Grenzgänger zwischen den Fronten umfassende Erfahrungen des Menschseins in extremsten Situationen. Es wurden seine Schicksalsjahre, die sein Leben völlig veränderten. Nach dem Kriege wurde er von ehemals Freund und Feind, von Engländern, Franzosen und Deutschen gleichermaßen, mit höchsten Orden für seine Einsätze geehrt, was seine alles umfassende Menschlichkeit unter diesen extremen Umständen überzeugend nachwies.
In diesen Kriegsjahren traf er in Spanien in einer scheinbar ausweglosen Situation seinen späteren geistigen Lehrer Garcia - scheinbar zufällig. Garcia wies ihm einen bis dahin unbekannten Weg, den "zielfreien Weg der abendländischen Weisheitstradition". In den extremen Kriegssituationen seiner Zeit mußte er dessen praktische Brauchbarkeit für sich selbst erkennen und erfahren. Frédéric Lionel überstieg dabei die Angst und wurde sich in einem seiner tiefsten Erleuchtungsmomente seiner Selbst jenseits von Raum und Zeit bewußt, was er so beschrieb:
"Der Körper, die Erde, die Sterne, die Galaxien verschmolzen zu einer Einheit - und zu dieser Einheit gehörte ich. Grenzenlos, zeitlos schwebte mein Bewußtsein in einer pulsierenden Ewigkeit, in einem überweltlichen Licht, das einen Zustand völliger Überantwortung kennzeichnet ..".("Die Entscheidung")
Nach dem Kriege baute er seine hochverschuldete Firma wieder auf und streckte in Brüderlichkeit die Hände aus nach dem Feind von Gestern, der für ihn stets Mitmensch und im tiefsten Innern ein Bruder war. Er lud schon 1946 deutsche Kinder zu Ferienaufenthalten an den Genfer See in sein Vaterhaus ein.
Aber seine geistig-seelische Wandlung während des Krieges trieb ihn weiter. Zusammen mit seiner Ehefrau Geneviève, seinem Schwiegervater André Karquel und mit Garcia trug er bei, ein neues Bewußtsein, was er selbst erlebte und lebte, in anderen Menschen zu wecken. Diese neue Weltsicht, die wahrscheinlich eine Wurzel des sog. New Age wurde, sollte den dritten Weltkrieg verhindern und die Menschen aus dem Wiederholungszwang ihrer Zerstörungssucht heraus zur inneren Freiheit führen. Gemeinsam brachten sie diese Vision durch regelmäßige Treffen mit den damaligen philosophisch- mystisch Lehrenden der Welt voran. An solchen regelmäßigen Gesprächen und Treffen am Genfer See, in Todtmoos und in der Schweiz nahmen zusätzlich in jeweils verschiedenen Besetzungen sein Freund Graf Dürckheim, D.T. Suzuki, Pier Vilayat Inayat Khan, Teilhard de Jardin, Krishnamurti, Bernhard d´ Oncieu (ein Freund Satprems), Gabriel Monod-Herzen ( Physiklehrender in Auroville) und viele andere teil.
Frédéric Lionel sagte zum Sinn dieser Treffen :"Wenn wir mit Gedankenmodellen von gestern in eine Welt von morgen hinienoperieren, wird sich keine Lösung abzeichnen. Demnach ist diese (von uns in diesen Treffen verfolgte) Idee einer ganz anderen Weise des Wirkens und Denkens keine Utopie, sondern eine Notwendigkeit. Die Welt ist, was sie ist. Sie zu sehen, wie sie ist, ist not-wendig. Die Wirrniss in ihrem Ursprung zu erkennen führt zu einer ganz anderen Wirklichkeit, die unser Denken leiten soll".( F. Lionel: "Weise denken im Alltag", N.F. Weitz Verlag).
Mit 55 Jahren verkaufte er seinen Betrieb und ergriff den Pilgerstab, wie er es selbst nannte, um nur noch "das von oben Gesäte" in eine Welt zu tragen, die es scheinbar vergessen hatte. Er lebte seine Mission - das Wagnis, frei zu sein - den intiatischen, zielfreien Weg als Praxis des Lebens, Schreibens und Handelns. Dabei wollte er, manchmal auch "als Rufer in der Wüste" tituliert, seine Zuhörer stets zur Selbst-Erkenntnis führen: "Der einzige innere Meister, wir könnten ihn Christus in jedem nennen, wohnt uns inne".("Weise denken im Alltag").
Er stellte seine Berufung einmal wie folgt dar:
"Ich denke, daß es meine Aufgabe ist, entsprechend tiefgehender Erlebnisse, also tiefgehender Erfahrungen, die Botschaft, die diese Erlebnisse oder Erfahrungen enthalten, weiterzuleiten. Ich weiß, wie schwer es ist, speziell wenn man sich einbildet, geborgen und zufrieden zu leben, die Berufung zu erkennen, die jedem von uns zufällt. Und so könnte ich meine Philosophie folgendermaßen zusammenfassen: Wenn alles mit allem verbunden ist, wie die moderne Wissenschaft es beweist, sind wir Menschen nicht nur untereinander, sondern auch mit unserer gesamten Um-Welt verbunden. Wir bilden einen lebenden Organismus, ein lebendes Ganzes. In einem lebenden Organismus hat jede Zelle eine Funktion, die wir erfüllen müssen, um dem Gesamt-Organismus Harmonie, also Gesundheit, zu verleihen. Welche Aufgabe das (für jeden einzelnen) ist, wie sie zu erkennen, wie sie anzunehmen und zu erfüllen ist, bleibt, denke ich, die Aufgabe derer, die wie ich weise Botschaften übermitteln". ("Weise denken im Alltag",)
In diesem Sinne haben wir ihn als Zuhörer seiner Vorträge, als Freunde und Schüler sowie als Wegbegleiter seiner vielfältigen Tätigkeiten der letzten 36 Jahre kennengelernt. Sein erfülltes Leben "eines abendländischen Philosophen des Wortes und der Tat" war immer ein Versuch, den Menschen und der Gesellschaft die so dringend notwendige Beratung und Hilfe bei der Suche nach der grundlegenden Orientierung im Leben zu geben.
Er hat in diesen 36 Jahren in Frankreich, in Deutschland, in der Schweiz, in England, Amerika und Irland viele Seminare und Vorträge gehalten. Er hat ca. 30 Bücher in 6 Sprachen veröffentlicht, war in einigen Radio- und Fernsehsendungen, u.a. als "Zeuge des Jahrhunderts" im ZDF. Frédéric Lionel sprach in Firmen, auf Friedensveranstaltungen, in Universitäten, in Kirchen, Privathäusern und zahlreichen Tagungsstätten. Er hat sehr viele Menschen berührt, belehrt, begeistert, verändert und beraten, war ihnen Ratgeber und weiser Freund. Er hat sie bei Partnerschaftsproblemen, beruflichen Problemen, Existenzgründungen und Sinnfragen beratend und inspirierend begleitet.
Er konnte, auch wegen seiner vielschichtigen Lebenserfahrung, die authentische Verbindung herstellen von Spiritualität und Technik, von Philosophie und Wirtschaft, von Naturwissenschaft und Religion, von Christentum und mystischer Erfahrung. Er zitierte dabei ebenso selbstverständlich aus den Weisheitstraditionen und aus den Worten von Christus wie aus denen von Pythagoras, Lao Tse, Buddha oder Meister Eckehart, um nur einige zu nennen. Er konnte auf unnachahmliche Weise ein Stück der Wurzeln des Abendlandes in jedem seiner Zuhörer und Leser beleben, die das verschüttetete Fundament unserer Gesellschaft sind. Vielen Menschen wurde dadurch bewußt, daß Europa Träger einer der ältesten geistigen Traditionen unserer Welt ist und daß es auf jeden von uns ankommen würde, diese im heutigen Materialismus fast vergessene Verbindung zu unserem Inneren und zu unseren Wurzeln wieder herzustellen. Vorher nie gehörte Verbindungen von z.B. Ägypten, Griechenland, Alexandria und Palästina mit der Alchimie, den Kathedralen und der Renaissance wurden durch ihn zu inhaltlichen Lichtfäden unserer abendländischen Entwicklung.
Diese Lichtfäden verbanden sich in manchen von uns auch zum roten Faden der eigenen Entwicklung, den wir nach seiner Ansicht erkennen sollten, um uns selber zu verstehen. Erst auf der Basis dieses Wurzelgeflechtes unserer abendländisch-christlichen Welt sei das "Erkenne Dich Selbst" und die sinnvolle Handlung in der Gegenwart für eine glückliche Zukunft möglich, meinte er.
Man kann die Zahl der von seinem Wirkungskreis berührten Menschen nur schätzen - es müssen viele Tausende sein. Aber was sind Ziffern - wer kann wirklich die Welle ermessen, die er als Pilger mit seinem Wirken in der Welt ausgelöst hat. Durch seine Mission hat sich etwas in unserer Welt geändert, weil sich etwas in vielen von uns geändert hat.
Die Begegnungen und Seminare mit ihm haben oft auch ganz persönliche Erinnerungen in uns geprägt. Er versuchte, Spekulationen, Illusionen, Ignoranz und Enge in Harmonie, Klarheit und Weite wandeln zu helfen. Die intensive Atmosphäre der Vorträge und Gespräche, die Stille und die Meditationen ergänzten sich. Seine Seminare waren Oasen im Alltag, für manche Menschen Jahresringe Ihres Lebens, für viele ein Symbol der Harmonie, der geistigen Heimat und der Verbundenheit.
Frédéric Lionel steht als authentisches und kompaktes Beispiel vor uns, das durch sich selbst in wahrer Autorität spricht. Er hat tiefinnere Saiten in seinen Zuhörern und Lesern zum Klingen gebracht - oft zum ersten Mal.
Seine Menschenliebe wurde in seinen Taten und Worten überdeutlich. Seine Botschaft, seine Mission und sein Leben bezeugten sie.
Er hatte sein Leben in den Dienst seiner Berufung gestellt und hat dadurch sehr vielen Menschen sehr viel gegeben. Wir danken ihm für sein Lebenswerk als Frucht seines tätigen und erfüllten Lebens, was uns gerade am Beginn des dritten Jahrtausends helfen kann. Es ist deshalb tröstlich, daß sich seit nunmehr zehn Jahren der "Arbeitskreis für Abendländische Weisheit", Köln und Aachen und der N.F. Weitz - Verlag, Aachen um die Umsetzung, Bearbeitung und Weitergabe seines Gedankengutes bemühen. Viele seiner Schüler wirken in der ganzen Welt und versuchen damit auf ihre Weise, diese heute so wesentliche Arbeit fortzuführen.