Die lebenden Steine
 
Fahlgraue Dämmerung kriecht durch die Ritzen der Holzladen. Sie schlägt die Augen auf, geweckt von ihrer inneren Uhr. Für einen Moment durchdringen ihre blauen Augen das Grau des Raumes, der spartanisch eingerichtet ist. Ein Stuhl mit Tisch, ein Bett, ein Schemel mit Waschschüssel und eine Stange für ihre Gewänder sind fast die einzigen Einrichtungsgegenstände. Sie erhebt sich geschmeidig und geht zu dem Stuhl. Das weiße Druidinnengewand liegt schon bereit, die Sandalen und die Gewandspangen ebenfalls. Sie beugt sich über eine Tonschüssel, die eiskaltes Wasser enthält, schöpft es mit ihren hohlen Händen und läßt es über ihr Gesicht fließen. Sie trocknet ihr Gesicht, kleidet sich an und fröstelt dabei. Die graue Dämmerung wird in einer halben Stunde dem Sonnenaufgang weichen, dann muß sie ihren Dienst versehen. Heute wird sie am Heiligtum mit einer Novizin die Rituale der Tag- und Nachtgleiche vollziehen, die den Frühlingspunkt des Sonnenzyklus anzeigen. Nachdem sie ihr Gewand angelegt hat, verharrt Sie für wenige Minuten mit vor der Brust übereinandergelegten Händen und gesenktem Kopf.

Ihre Schlangenarmbänder scheinen sich dabei ineinander zu verschlingen, zu verweben und zu verketten.

Vom Dorf her tönt ein Hahnenschrei durch die Morgenluft. Sie öffnet die Augen, verneigt sich kurz und wendet sich zur Tür. Beim Zurückschieben des Riegels schlägt ihr die kühle Luft durch die sich öffnende Tür entgegen. Vor der Tür wartet Fianna, die Novizin. Sie kreuzt ehrfürchtig die Arme und neigt den Kopf. "Sei gegrüßt, Grainne, die Göttin sei mit Dir", begrüßt sie die Priesterin. "Sei mir gegrüßt, Fianna", antwortet ihr Grainne, "laß uns zum Heiligtum gehen".

Schweigend und gemessenen Schrittes gehen die beiden Frauen durch das immer heller werdende Grau des Morgens. Sie folgen einem Fußpfad, der auf eine freie Wiese mündet, in deren Mitte sich eine kompakte Masse langsam aus der Dunkelheit schält. Beim Näherkommen zeigen sich die Umrisse von acht unterschiedlich großen Steinen, die eine Kreis bilden.

Einige der Steine überragen die beiden Frauen, andere sind etwas kleiner. Der Kreis ist nicht sehr weit, nur etwa 12 große Schritte im Durchmesser, aber die Steine sind besonders groß und eindrucksvoll. Es gibt nur wenige Zirkel mit größeren Steinen im Land, wohl aber einige Zirkel mit bis zu dreißig oder mehr kleineren Steinen.

Jedes Heiligtum hat seine besondere Aufgabe. Grainnes Heiligtum hat die Aufgabe, der Harmonie und Kraft Ausdruck zu verleihen, die zwischen Erde und Himmel, zwischen Göttin und Gott schwingt und aus der sich alles Leben gebiert. Dies gilt insbesondere zu Beginn des Frühlings, wenn das Leben sich in stets wechselnder Form erneuert.

Beide Frauen kreuzen die Arme. Sie begrüßen den Kreis der lebenden Steine, indem sie zunächst zum größten Stein gehen, der graugrün mit schwach glitzernden Einschlüssen da steht. Grainnes linke Hand legt sich behutsam auf den Stein."Sei mir gegrüßt, Herrin des Ostens", murmelt sie mit geschlossenen Augen. Sie spürt das warme Vibrieren der Kraft in diesem Stein.

Dann umrunden sie linksherum den Zirkel, bis sie auf der gegenüberliegenden Seite einen kleineren, spitz zulaufenden Stein erreichen. Im Auflegen der rechten Hand spricht Grainne den Stein an: " Sei gegrüßt, Herrscher des Westens". Beide Frauen folgen Ihrem Umkreis nach links und legen dann einem ebenfalls sehr großen Stein mit den Worten "Sei mir gegrüßt, Herrin des Südens", die linke Hand auf. Nach einem Halbkreis erreichen sie den gegenüberstehenden großen und spitzen Stein. "Sei mir gegrüßt, Weiser des Nordens", intoniert die Priesterin im Auflegen der Rechten.

Das Heiligtum erwacht in mir, zeigt sich mir als Abbild der großen Ordnung, als Beziehung der Göttin und des Gottes aufeinander in ihren verschiedenen Formen. Für Fianna noch nicht erkennbar, wölbt sich jetzt die linkdrehende Glocke des Heiligtums in den stillen Himmel über dem Steinzirkel. Die mütterliche Erdengöttin öffnet sich im ewigen Tanz dem himmlischen Vatergott im Rhythmus der großen Ordnung, die beide umfaßt und die beide ausdrücken.

Das Grau ist einem fahlen Blaßrosa gewichen, als Grainne Fianna prüfend ansieht. Die nach hinten gebundenen roten Haare der Novizin kontrastieren zu ihrem blassen Gesicht, aus dem grüne Augen fragend die eindrucksvolle Frauengestalt der Priesterin betrachten. Fianna spürt, daß sich der eben noch fröstelnde Morgen in eine seltsam dumpfe Glut zu wandeln beginnt, die ihren Körper sanft umspielt.

Grainne tritt langsam in den Kreis, gefolgt von Fianna.

Die Priesterin geht zu einer flachen Steinplatte in der Mitte des Zirkels, auf die sie sich mit dem Blick zur "Herrin des Ostens" aufstellt. Fianna steht ruhig neben ihr, sie ist gefaßt und aufmerksam. Grainne schließt die Augen.

Ich spüre die Spirale der aufwärts steigenden Kraft, die in der Mitte durch mich wieder vom Himmel her in den Boden eintritt. Der Sonnenaufgang direkt über der Herrin des Ostens steht kurz bevor und mit ihm die Begrüßung des Frühlings und die Wiederkehr der Fruchtbarkeit des Lebens. Die Erwartung des Sonnenaufganges im Heiligtum liegt wie das Prickeln des kalten Wassers auf meiner Haut. Ich spüre das blaßorange, kreisförmige Strahlen der Herrin des Ostens. Ihr Gruß, ihr orangeroter Lichtkreis mit dem dunklen Kreuz in der Mitte, tritt mir entgegen. "Ich verneige mich vor Dir, Du Schöpferin, große Mutter, Herrin des Ostens".

Fianna verfolgt atemlos, wie auf dem konzentrierten Gesicht der Priesterin verschiedene Gemütszustände wechseln und kurze Anrufungen in der tiefen Stille erklingen. Dann erblüht ein feines Lächeln langsam wie die Morgenröte auf ihrem Gesicht. Grainne beugt ihren Kopf tief, während sie ihre Arme vor der sanft gewölbten Brust kreuzt. Beide Frauen sinken auf ihre Knie und erwarten den Moment des Sonnenaufgangs.

Ein rosa Glühen wird sichtbar am Horizont in der Peilrichtung über der Herrin des Ostens, aus dem in atemberaubender Schnelle das Gleißen der Sonnenscheibe hervorbricht. Das Vogelzwitschern des frühen Morgens verstummt für einen Moment. In tiefer Stille beginnt die Sonne ihren Aufstieg und gießt ihre Strahlen aus auf die unsichtbare Kuppel über dem Heiligtum, dessen Rhythmus Grainne atmet.

In den Gesang der Erdkraft mischt sich jetzt auch der sanfte Ruf der Frau des Süd-Ostens, die als kleinerer Stein überleitet zur mächtigen Herrin des Südens. Vom Süden her kommt jetzt zur sanften Morgenglut des Ostens die sengende Liebesglut des Mittags. Kraft und Leidenschaft der Herrin des Südens färben den Rhythmus, in dem der Kreis schwingt. Sonne und Erde, Helles und Dunkles, Chaos und Ordnung als scheinbare Gegensätze scheinen sich aufzulösen im Ein – und Ausatmen des Lebens.

Fianna schlägt die Augen auf, als sie das Keuchen der Priesterin vernimmt. Auf Grainnes Gesicht spiegelt sich wie ein Wetterleuchten ein Reigen von Gefühlen, der im Rhythmus des Steinzirkels auf sie hereinzubrechen scheint. Fianna fühlt sich ebenfalls seltsam beklommen und gleichzeitig erhitzt. Die Sonne ist gerade erst aufgegangen, einen Handbreit über den Horizont gewandert und flutet doch schon das Rund des Heiligtums. Grainne kniet mit hoch aufgerichtetem Oberkörper, obgleich ein leichtes Beben sie durchschüttelt. Seltsam hell und unwirklich erscheint Fianna das Glitzern der verschiedenen Steine, die jeweils im Abstand eines Achtelkreises auf dem Umfang stehen, immer paarweise vier Steine männlich und vier Steine weiblich über den Mittelpunkt mit ihrem Gegenüber verbunden. Ihre unterschiedlichen Rhythmen werden von der Priesterin zu einem großen Gesamtgesang mit der Erde und der Sonne verbunden, verschmelzen in ihr als schwingendem Instrument. Dieser für Fianna unhörbare Gesang wird immer mehr zum heißen Atem, der durch ihren Körper und durch ihre Wirbelsäule pulst. Sie sieht beunruhigt zu Grainne, auf deren Gesicht sich eine tiefes Strahlen der Verzückung gelegt hat.

Grainne ist nun Teil des Gesanges der Steine, des Abrollens der Rhythmen des Lebens.

Nach einiger Zeit kommt Grainne wieder zu sich unter dem immer drängenden Rütteln und Schütteln von Fianna. Dumpf hört sie im Rauschen eines großen Wasserfalls eine Stimme, die immer deutlicher wird: "Grainne, Grainne, hörst Du mich ? Bitte, bitte, wach auf, bitte ..".

Sie blinzelt und sieht, daß sie inmitten des Steinkreises liegt. Die Sonne steht schon hoch, es muß schon mindestens drei Stunden nach Sonnenaufgang sein."Wie lange liege ich schon hier ?", fragt sie benommen. Fianna wird sofort ruhiger. "Ungefähr eine Stunde. Das Ritual hat Euch wohl sehr erschöpft, Herrin ?", fragt sie scheu. Grainne antwortet nicht. Sie schließt die Augen und erinnert sich an die schier unerträgliche Kraft, deren Instrument sie sein mußte.

Große Göttin, großer Gott, möge das Ritual gelungen sein ! Möge die Vereinigung des Herrschers und der Schöpferin, des Weisenund der Liebenden das Leben auf diesem Land erneuern ! Möge sich die Zeit neu formen und mögen die Himmelachsen die Welt neu aufspannen ! Möge göttlicher Segen auf uns und auf der großen Schöpfung ruhen und uns diesseits und jenseits unseren richtigen Platz geben !

Mühsam erhebt sich Grainne und wankt aus dem Kreis, gestützt auf die immer noch etwas zitternde Fianna. Nach Verlassen des Kreises hören sie Vogelzwitschern, spüren den milden Frühlingshauch und riechen den Duft der fruchtbaren Erde. Die Luft ist geschwängert von einer unhörbaren Melodie, als ob gerade ein großes Orchester aufgehört hätte zu spielen. Beide spüren deutlich, daß alles gut ist, so wie es ist. Ihre Aufgabe ist erfüllt.
 
 
 
 
 
 

Copyright Günter Stock, 2000